Strategie – einfach, kreativ, flexibel

Für viele Jahre galt die Entwicklung strategischer Konzepte als abgeschlossen; die für das Schaffen und Erhalten von Erfolgspotentialen erforderlichen Konzepte schienen ausreichend beschrieben und allgemein bekannt. Doch plötzlich hat sich das Blatt gewendet.


Strategisch bisher mustergültig positionierte Unternehmen stecken plötzlich zwischen Angst vor unbekannten Bedrohungen und der Orientierungslosigkeit auf Grund vieler neuer Technologien. Eine Branche nach der anderen durchläuft einen grundlegenden Veränderungsprozess. Die für relativ stabile Branchen entwickelten klassischen Konzepte helfen unter den neuen Rahmenbedingungen nicht ausreichend weiter.

Den Grund für diese Phase der „kreativen Zerstörung“ hat Joseph Schumpeter Ende der 1930er Jahre in seinem Business-Cycle-Modell diagnostiziert: Branchen wachsen, erreichen ihren Höhepunkt und werden dann durch Unternehmerinnen und Unternehmer zerstört, denen es gelingt, innovative Anwendungen neuer Basistechnologien durchzusetzen. Die digitale Transformation scheint eine derartige Phase kreativer Innovation und gleichzeitiger Zerstörung etablierter Branchen zu sein.

Um Unternehmen erfolgreich durch die Phase der Neuordnung zu führen, wurden in den letzten Jahren eine Reihe neuer strategischer Konzepte entwickelt. Sie können und werden die klassischen Konzepte, deren Fokus in Phasen relativer Stabilität liegt, nicht für immer ersetzen. Sie helfen aber in der Zeit des Umbruchs, den Anpassungsprozess zu meistern.

Nach der von neuer Technologie getriebenen Transformation werden sich neue Branchen in ihren neuen Strukturen wieder stabilisieren. Dann werden die klassischen Konzepte ihre Bedeutung zurückerlangen. Denn dann kommt es wieder darauf an, welche Wettbewerber sich am besten differenzieren und abgrenzen können.

1. Arenen statt Branchen

Für das klassisch strategische Denken spielt sich Wettbewerb innerhalb einer Branche ab, die durch bekannte Kunden, Lieferanten, potenzielle und bestehende Konkurrenten sowie Substitute definiert ist. Doch greift diese Sichtweise in der Phase des Umbruchs zu kurz. Die wesentlichen Veränderungen entstehen nämlich typischerweise nicht innerhalb der Branche, sondern kommen von außen. Apple als Computerhersteller hat mit dem iPod die Branche der Unterhaltungselektronik ebenso verändert wie mit dem iPhone die Branche der Mobilkommunikation. Airbnb ist gerade dabei, die Hotel-Branche zu verändern, ohne selbst Hotels zu besitzen. Insbesondere digitale Technologien machen es branchenfremden Unternehmen möglich, mit komplett anders gearteten Wertschöpfungsketten in Märkte einzudringen, auf denen sie bisher nicht in Erscheinung getreten sind, uU ohne über Kompetenzen zu verfügen, die in der Branche in der Vergangenheit als entscheidend galten.

Abb 1: Bekannte Instrumente des strategischen Managements.

Abb 1: Bekannte Instrumente des strategischen Managements.

Eine reine Branchenanalyse reicht daher heute nicht mehr aus, um die Wettbewerbskräfte einschätzen zu können. Der Blick muss über die Branchengrenzen hinaus gerichtet werden. Rita McGrath spricht in diesem Zusammenhang von einem (Kunden-)Ecosystem bzw einer Arena, in denen Unternehmen agieren. Im Zentrum steht der Kunde, um den sich ein System an Produkten, Dienst­leistungen und Nutzenversprechen aufbaut. Das iPhone agiert damit nicht in einer Telefonbranche, sondern in einer Arena von Telefon-Hardware, Apps, Internetcontent etc. Die Kaufentscheidung für ein Mobiltelefon wird nicht im Vergleich mit anderen Telefonherstellern getroffen, sondern durch Vergleich der Gesamtlösungen, die das Ecosystem für den Kunden bietet. Um lang­fristig im Wettbewerb bestehen zu können, muss ein Unternehmen versuchen, das Ecosystem seiner Kunden zu verstehen und seinen Platz in diesem Ecosystem zu definieren.

2. Komplementoren – eine unterschätzte Macht

Ein bedeutender Bestandteil der Ecosysteme sind Komplementoren, also Anbieter von Produkten oder Leistungen, die die eigenen Angebote ergänzen und deren Verkauf fördern. Ein weit verzweigtes Werkstättennetz verhält sich komplementär zum Verkauf einer Automarke, das Angebot an Standardsoftware verhält sich komplementär zum Absatz von PCs. Durch Digitalisierung und digitale soziale Netzwerke wächst die Bedeutung von Komplementoren. Dennoch wird die Bedeutung von Komplementoren im Strategieentwicklungsprozess oft übersehen, da sie sich üblicherweise nicht in der eigenen Branche befinden.

Nalebuff und Brandenburger zeigen, dass Komplementoren dabei helfen einen Markt bzw ein Absatzvolumen zu vergrößern. Dagegen konkurrieren Wettbewerber darum, wie dieses Absatzvolumen untereinander aufgeteilt wird. Strategisch kann es sinnvoller sein, mit Hilfe von Komplementoren, das Marktvolumen zu vergrößern, als mit den Konkurrenten um die Aufteilung zu kämpfen.

3. Vergänglichkeit statt lang­fristig stabiler Wettbewerbsvorteile

Die klassische Strategieliteratur fordert den Aufbau nicht oder nur schwer imitierbarer Wettbewerbsvorteile. Diese Forderung geht davon aus, dass alle Wettbewerber einer Branche im selben – relativ stabilen – Umfeld agieren und ein einmal erreichter Vorsprung durch Konkurrenten nur schwer aufholbar ist. Wenn aber die Branche nicht mehr der stabilisierende Faktor ist, können auch lang­fristige Wettbewerbsvorteile nicht garantiert werden. Wettbewerbsvorteile unterliegen einem Lebenszyklus. Unternehmen müssen die Vergänglichkeit ihrer Wettbewerbsvorteile erkennen und akzeptieren. Permanente Veränderung, Suche nach immer neuen Marktchancen und ein kontinuierlicher Innovationsprozess werden zum strategischen Erfolgs­faktor.

Die Forderung nach ständiger Weiterentwicklung wirkt auf den ersten Blick selbstverständlich. Rita McGrath weist aber auf Stolpersteine hin, die den Veränderungsprozess hemmen:

  • Vorreiter-Falle: Wer als Erster auf dem Markt ist, glaubt auch, lang­fristig Marktführer bleiben zu können.
  • Überlegenheits-Falle: Wenn man von seinem eigenen Produkt begeistert ist, übersieht man die Bedeutung von Weiterentwicklung.
  • Qualitäts-Falle: Die Qualität muss so hoch sein, wie die Kunden bereit sind, dafür zu zahlen. Darüber hinausgehende Qualität bringt keinen Wettbewerbsvorteil.
  • Ressourcen-Falle: Zu einer Zeit, in der die bestehenden Produkte erfolgreich sind, ist es schwierig, Ressourcen von diesen in neue Projekte zu verschieben.
  • Weiße-Flecken-Falle: Wenn innovative Ideen nicht in die Organisationsstruktur passen, werden diese lieber verworfen, als die Organisation an neue Dinge anzupassen.
  • Empire-State-Building-Falle: Je mehr Budget ein Bereich verwaltet, desto angesehener ist dieser Bereich im Konzern. Innovationen führen in derartigen Systemen ein Schattendasein.
  • Fallweise-Innovationen-Falle: Vergängliche Wettbewerbsvorteile verlangen nach permanenter Innovationstätigkeit und nicht nach fallweisen Innovationsschüben.

Um diesen Stolpersteinen auszuweichen, rät Rita McGrath:

  • Dem Management nur die grobe Richtung festzulegen, der Organisation aber die Freiheit zum Experiment zu lassen.
  • Kennzahlen und Erfolgsmaße immer wieder an die Veränderungen anzupassen.
  • Sich in die Haut der Kunden zu versetzen und sich ständig weiterzuentwickeln.
  • Mit anderen Marktp­artnern Netzwerke aufbauen, in denen sich Kundennutzen erbringen lässt.

4. Simple Rules statt komplexer Strategien

Schon in den späten 70er Jahren hat Henry Mintzberg aufgezeigt, dass Strategien nicht notwendigerweise aus formalen Strategieprozessen entwickelt werden, sondern in den weitaus meisten Fällen aus dem Unternehmensalltag heraus entstehen. Er nennt dies emergente Strategien. Diese entstehen aus den Verhaltensweisen und sich entwickelnden Prozessen im Unternehmen. Mit der Zeit verfestigen sie sich zu allgemein anerkannten Strategien. Dem Management kommt hier die Aufgabe zu, die entstandenen Strategien zu evaluieren und gegebenenfalls zu fördern oder zu verwerfen.

Je undurchsichtiger, volatiler – also komplexer – das Wettbewerbsumfeld wird, desto unmöglicher wird eine umfassende Strategieplanung. Kathleen Eisenhardt setzt mit ihrem Buch „Strategy as Simple Rules“ genau an dieser Stelle an und stellt sich mit ihren Lösungsansätzen explizit gegen die klassische Systemtheorie, die bestreitet, dass sich komplexe Systeme mit einfachen Regeln steuern lassen. Komplexe Situationen erfordern laut Kathleen Eisenhardt einfach handhabbare und anpassbare Methoden, die einen Mittelweg zwischen bürokratischem Effizienzdenken und strategischer Orientierungslosigkeit darstellen.

Eine überschaubare Anzahl konkreter und einfach umsetzbarer Faustregeln ( simple rules) sollen im Tages­geschäft helfen, Entscheidungen zu treffen und sicherstellen, dass Entscheidungen auch in Stresssituationen mit den strategischen Zielen in Einklang bleiben. Simple rules müssen daher leicht verständlich, leicht zu merken und leicht anwendbar sein. Sie müssen sich auf die Kernaktivitäten des Unternehmens beziehen und zu den grundlegenden strategischen Zielen des Unternehmens passen.

Selten entstehen sie aus einem formalen Strategieplanungsprozess. Sie entwickeln sich vielmehr im Unternehmen aus Erfahrung und gemachten Fehlern. Mit der Zeit entsteht durch sie eine Unverwechselbarkeit des Unternehmens.

Kathleen Eisenhardt empfiehlt, die simple rules mit Hilfe von drei Fragen zu entwickeln: 1. „Wo will ich hin?“, 2. „Was hindert mich dabei?“, 3. „Was muss ich tun, um hinzukommen?“

5. Strategisch denken statt strategisch planen

Durch die Vielzahl an strategischen Tools hat sich in vielen Unternehmen ein effizient und formal ablaufender strategischer Planungsprozess durch­gesetzt, der vorge­gebene Planungsschritte abarbeitet und am Ende zu einer „Lösung“, einer strategischen Entscheidung führt. Der kreative Aspekt des strategischen Denkens wird durch diesen bürokratischen Planungsprozess meist vollkommen verdrängt. Aus diesem Grund drängt Julia Sloan dazu, strategisches Denken zu fördern und zu „lernen“, um es der formalen Strategieplanung zur Seite zu stellen. Denn eine innovative Strategie lässt sich nicht durch strategische Planung alleine entwickeln.

Abb 2: Erscheinungsformen von simple rules.

Abb 2: Erscheinungsformen von simple rules.

Abb 3: Die Unterschiede zwischen strategischer Planung und strategischem Denken.

Abb 3: Die Unterschiede zwischen strategischer Planung und strategischem Denken.

Abb 4: Zusammenspiel von strategischem Denken und strategischer Planung im Planungsprozess (in Anlehnung an Modell von Julia Sloan).

Abb 4: Zusammenspiel von strategischem Denken und strategischer Planung im Planungsprozess (in Anlehnung an Modell von Julia Sloan).

Strategisches Denken sucht nicht vorschnell nach rasch umsetzbaren, einfachen Lösungen für offensichtliche Probleme, sondern konzentriert sich auf die kreative und kritische Suche nach den wirklichen Herausforderungen. Dies erreicht man durch vielfältige Diskussionen innerhalb des Unternehmens und ein tiefgründiges Nachdenken über die grundlegenden Annahmen der derzeitigen Strategie und Rahmenbedingungen.

Als Start des Prozesses empfiehlt Julia Sloan: „Zeichne dein strategisches Problem“. Der Prozess des Zeichnens entspricht dem Charakter des strategischen Denkens, wohingegen Schreiben und Rechnen den Charakter der rationalen Planung widerspiegelt. Zeichnen fördert die Kreativität und die integrative Sichtweise.

6. Strategie braucht Kreativität

Kreativität und das Überwinden klassischer Denkweisen spielt auch für Adam Brandenburger eine zentrale Rolle für den Aufbau von Wettbewerbsvorteilen. Um Kreativität im Unternehmen zu fördern, bieten sich vier Ansatzpunkte an:

  • contrast – Schau wie es alle machen, dann mache es anders: Viele erfolgreiche Strategien bauen auf einen Unterschied zu den klassischen Denkweisen einer Branche auf. Die Suche nach einer erfolgreichen Strategie beginnt in diesem Fall in der Analyse, wie sich alle anderen Wettbewerber verhalten, welche Regeln sie beachten, um dann eine andere kreative Lösung zu suchen.
  • context – Hole dir Ideen aus anderen Umfeldern: Durch den Wechsel in ein anderes Umfeld, einen anderen Kontext, können bewährte Lösungen ähnlicher Probleme erkannt und in die eigene Branche übernommen werden.
  • combination – Füge zusammen, was immer getrennt war: Neuartige Kombinationen des bestehenden Angebots schaffen oft neue strategische Möglichkeiten und lassen sich nur schwer kopieren. Derartige Kombinationen entstehen durch
    • vertikale oder horizontale Kooperation,
    • eine Verknüpfung mit komplementären Angeboten,
    • neue Technologie und digitalen Möglichkeiten. Die Erweiterung des eigenen Angebotes mit künstlicher Intelligenz wäre ebenfalls eine derartige Kombination.
  • constraint – Verwandle deine Schwächen und Beschränkungen in Stärken: Durch Abbau von Schwächen lassen sich neue Möglichkeiten eröffnen. Viel besser ist es aber, Schwächen und Beschränkungen zu akzeptieren und Wege zu suchen, die durch diese Schwächen nicht behindert werden. Der Onlinevertrieb war für viele kleine Startups eine Möglichkeit, viele Kunden anzusprechen, ohne die Schwäche des mangelnden Vertriebsnetzes beseitigen zu müssen.

Literaturempfehlungen

Brandenburger, Strategy needs Creativity: http://adambrandenburger.com/.
Eisenhardt, Simple Rules, Berlin 2015, 336 Seiten.
Eschenbach/Eschenbach/Kunesch, Strategische Konzepte, Stuttg­art 2008, 300 Seiten.
McGrath, The End of Competitive Advantage, How to Keep Your Strategy Moving as Fast as Your Business; Boston 2013, 240 Seiten.
Nalebuff/Brandenburger, Coopetition – kooperativ konkurrieren, Frankfurt 1996, 307 Seiten.
Sloan, Learning to Think Strategically, Oxford 2006, 312 Seiten.


Der Artikel ist in CFO aktuell (Heft 4/2019) erschienen. Mehr Infos unter: www.cfoaktuell.at

0 Kommentare

Dein Kommentar

An Diskussion beteiligen?
Hinterlassen Sie uns Ihren Kommentar!

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert