Diversifizierung als Grundprinzip halte ich für unglaublich wichtig

Karin Exner: Russland führt seit dem 24. Februar 2022 Krieg gegen die Ukraine. Der Westen hat mit sehr scharfen Sanktionen reagiert, beides hat enorme Folgen auch für Unternehmen. Für die meisten Unternehmen kam diese Entwicklung überraschend, dennoch gibt es auch Stimmen die sagen, dass diese Entwicklung absehbar war. War ein Krieg in der Ukraine absehbar? Wie schätzen Sie diese Entwicklungen etwa in Bezug auf die Gasabhängigkeit ein?


Walter Feichtinger: Nachdem über ein Jahr russisches Militär an der Grenze zur Ukraine zusammengezogen wurde, war schon klar, dass hier Absicht dabei sein muss. Das heißt, man hat mit einem Angriff gerechnet, aber nicht in diesem unglaublichen Ausmaß und auch nicht, dass dieser Angriff auf die Hauptstadt Kiew losgeht. Es war also schon eine Überraschung, dass der Krieg von russischer Seite in so einem großen Maßstab vorgetragen wird.

Wenn Sie den Energiebereich oder andere Bereiche gegenüber Russland ansprechen, dann muss man natürlich sagen, dass auch diese Problematik absehbar war: Es ist ein strategisches No-Go, sich zu 80 % von einem Lieferanten abhängig zu machen, wie das Österreich beim Gas macht. Ich habe einmal gelernt, dass man maximal 20 % von einem Lieferanten beziehen soll, also diversifizieren, soweit es nur irgendwie geht. Wir haben genau das Gegenteil gemacht und ich führe das auch auf die österreichische Mentalität zurück, weil wir nicht wirklich kritisch Sachen analysieren, sondern eher der Wunsch der Vater des Gedankens ist.

Karin Exner: Was können Unternehmen tun, um derartige risikobehaftete Entwicklungen früher erkennen zu können? Wohin, also auf welche Regionen, sollten die Unternehmen genauer schauen? Welche Risiken ergeben sich daraus? Mit welchen Methoden, mit welchen Informationsquellen können sie arbeiten, um den Blick für geopolitische Risiken und deren Folgen zu schärfen?

Walter Feichtinger: Globalpolitisch betrachtet gibt es derzeit wenige Regionen, wo man wirklich mit gutem Gewissen investieren kann, vor allem wenn man eine Wertepolitik verfolgt. Ich frage mich derzeit angesichts dieses Drängens in den arabischen Raum, wo auch gerade viele Leute hingerichtet wurden, ob wir uns vielleicht von dieser absoluten Werteorientierung ein bisschen verabschieden und mehr Realpolitik und Pragmatismus einkehren lassen müssen. Es wird dann notgedrungen sowieso passieren, das wäre Punkt 1.

Punkt 2: Natürlich, es gibt Grundsätze, wie viel man aus welcher Region beziehen soll oder zu welchem Anteil man von einem Lieferanten abhängig ist. Ich habe schon beim Gas erwähnt, dass rund 80 % von nur einem Lieferanten viel zu viel sind. Das mag viele Jahre gut gehen, aber irgendwann einmal kann der Crash kommen.

Dann haben wir auch während der Pandemie gesehen – und das ist für mich 1:1 vergleichbar – wie wir von Versorgungsketten abhängig sind. Hier muss auch entsprechend Vorsorge getroffen werden. Alles nur auslagern ist sicher auch nicht die Perspektive für die Zukunft. Daher werden in den strategisch kritischen Bereichen auch wieder eine gewisse Vorratshaltung und eine Produktion in Europa notwendig sein. Damit man nicht anderen globalen Playern ausgeliefert ist, wenn es zu einer Pandemie, zu einem Blackout oder zu einem Krieg kommt, wie wir es jetzt erleben.

Wie kann man das machen, wie kann man das analysieren oder wie kann man darauf zugehen? Punkt 1 wie gesagt Diversifizierung als Grundprinzip, das halte ich für unglaublich wichtig und der zweite Punkt ist, eine Langzeitanalyse zu machen.
Nehmen wir das Beispiel Putin: Putin ist 1999/2000 an die Macht gekommen, er war der wesentliche und der vehementeste Befürworter eines zweiten Tschetschenienkrieges. Da hat man schon gesehen, dass er, wenn es darauf ankommt, außenpolitisch auf das Instrument Militär setzt.

Dann haben wir es ein zweites Mal in Südossetien gesehen, dann in Syrien und im Jahr 2014 auch auf der Krim. Wenn man diese Ereignisse zusammenzählt, kann man ungefähr das Verhaltensmuster eines zentralen Akteurs erkennen. Der setzt auf Macht, auf Gewalt und Unterdrückung. Daher ist es nicht überraschend, dass es jetzt in der Ukraine zu einem massiven Einsatz von Militärgewalt kommt, wenn man sich diesen bisherigen Verlauf angeschaut hat. Das heißt, eine langfristige Analyse der politischen Verhältnisse und der maßgeblichen Akteure ist sicher etwas, das sich Risikomanager besonders anschauen müssen.

Karin Exner: Ist das nicht ein bisschen ein Widerspruch: Auf der einen Seite sehr stark diversifiziert zu sein und auf der anderen Seite überall sehr genau hinzuschauen, ergibt unter Umständen ein Scoping-Problem, das man das aufgrund der Kapazitäten gar nicht schaffen kann?

Walter Feichtinger: Grundsätzlich sollte man natürlich Fehler und grobe Schnitzer vermeiden, das ist schon klar, aber ich habe einen anderen Faktor angesprochen: Es muss ein gewisser Pragmatismus einkehren. Was wollen wir denn eigentlich? Wir wollen keine Atomkraft, wir wollen nur grüne Energie, wir wollen nicht von Russland abhängig sein, wir wollen nicht mit den Menschenrechtsverletzern agieren, wir wollen nicht mit dem Iran reden usw. Ja, da wird es bei uns kalt werden. Das heißt, wir brauchen eine Balance von Pragmatismus und Abwägung, wie weit man gehen kann, wo die Grenzen sind. Wo ist die „Schmerzgrenze“ als Firma oder auch als Staat.

Karin Exner: Auf welche (Folge-)Risiken und auch neue Risiken sollten Risikomanager:innen momentan ganz besonders achten? Stichwort: Energiepreise und Versorgungssicherheit (auch Lebensmittel)? Wie schätzen Sie andere neue Risiken ein, etwa Blackout, Nukleare Risiken oder Cyber-Risiken?

Walter Feichtinger: Im Grunde genommen geht es darum, die Handlungsfähigkeit eines Staates zu erhalten. Das ist das übergeordnete Ziel und dann kann man das herunterbrechen. Was sind dann die Bereiche, die hier dazugehören? Da sprechen wir von strategischer Infrastruktur, von Versorgungssicherheit und von Produktionssicherheit.  Ich würde in diesem Fall einen Top-Down-Ansatz machen und festlegen, was auf jeden Fall sicherzustellen ist und was ein Must-have oder ein Nice-to-Have ist. Wenn es darum geht, vitale Interessen zu erhalten und substanzielle Vorgaben auszufüllen, dann muss man wirklich diesen Top-Down-Ansatz machen. Ich glaube, das gilt für einen Konzern genauso wie für einen Staat.

Karin Exner: Eine Frage zum Schluss: Wie lautet Ihre Prognose für 2022? Wie wird sich das Jahr noch entwickeln?

Walter Feichtinger: Ich gehe zunächst davon aus, dass man die Energieversorgung in irgendeiner Form in Europa sicherstellen kann, wenn auch zu einem höheren Preis, das ist einmal das Eine. Das Zweite: Kann man den Krieg eindämmen, damit man hier auch wieder wirtschaftlich vorwärtskommen kann? Ich gehe auch davon aus, dass der Krieg einzudämmen ist. In den nächsten Wochen werden wir vielleicht, aber da ist natürlich auch viel Hoffnung dabei, einen positiven Wandel erleben. Einfach auch deswegen, weil Russland die militärischen Ressourcen ausgehen, so wie es aussieht. Das heißt, ich könnte mir vorstellen, dass die Wirtschaft nicht so stark beeinträchtigt wird, mit Ausnahme natürlich Russland-Geschäft und Weißrussland. Das ist vollkommen klar, weil das sind jetzt die Paria, die stehen auf der Sanktionsliste. Da wird man nicht so schnell herauskommen, denn die haben ja angegriffen und das kann man nicht einfach vom Tisch wischen. Wir wissen das auch von der Krim 2014, da sind die Sanktionen heute noch in Kraft. Das heißt, der Sanktionsmechanismus wird bleiben, vielleicht wird er sogar noch verschärft. Daher wird man auch eine Neuorientierung Russlands haben mit noch mehr Hinwendung zu China, noch mehr Abhängigkeit von China.

Wobei es sehr interessant ist, dass derzeit die USA versuchen, auf China Druck auszuüben, damit es sich von der russischen Vorgangsweise distanziert. Da wird man sehen, wie sich China als strategischer Akteur positioniert. Dabei zählen Freundschaften sicher nicht, sondern das ist rein strategisches Kalkül. Erst dann wird man sehen, wie Russland und wie die Ukraine tatsächlich dastehen. Denn wenn der Krieg zum Stehen kommt und es vielleicht sogar in großen Teilen zum Rückzug der russischen Truppen kommen wird, dann besteht natürlich ein unglaublicher wirtschaftlicher Bedarf in der Ukraine. Wir geben heute das Geld für die Flüchtlinge aus, dann geht es in den Wiederaufbau. Das ist vollkommen klar. Daher wird man vielleicht in der Ukraine schon in der zweiten Jahreshälfte als Investor oder Lieferant wieder einen Aufschwung erleben.

Karin Exner: Gibt es jetzt aus Ihrer Sicht oder aus Ihren Analysen geopolitische Risiken, die wir jetzt nicht behandelt haben, also was sind jetzt noch Risiken, wo die Unternehmen vielleicht noch genauer draufschauen außerhalb von Russland, also etwa China?

Walter Feichtinger: China kann und wird sich eigenständig positionieren, davon gehe ich aus. Ein Punkt, auf den wir sicher noch schauen müssen, ist, wie es mit den Atomgesprächen mit dem Iran weitergeht. Die sind ja momentan ausgesetzt. Die Gefahr ist, dass es zu keinem positiven Abschluss kommt und der Iran einfach weiter in der Produktion von angereichertem Uranium geht. Das könnte in der Region zu großer Unruhe führen. So hat Saudi-Arabien bereits angekündigt, in diesem Falle auch Nuklearwaffen produzieren zu wollen.

Karin Exner: Das heißt, in dieser Region liegt dann der nächste Zündstoff.

Walter Feichtinger: Das ist eher unverändert, da im Nahen Osten ständig etwas passiert. Das ist nur ein Hotspot, der jetzt ein bisschen aus den Augen und aus dem Blick geraten ist, weil wir woanders hinschauen

Karin Exner: Und was ist Ihre Einschätzung für das Worst-Case-Szenario in Bezug auf Covid-19?

Walter Feichtinger: Punkto Covid-19: Meine Frau ist Ärztin und besucht jeden Tag Fortbildungen und ich höre da am Rande ein bisschen mit. Hier sehe ich eigentlich keinen worst case, wenn man sich endlich aufrafft, die Impfpflicht tatsächlich durchzusetzen. Dann sollte es nicht wieder so dramatisch sein wie Anfang 2020, vor allem mit diesen hohen Todeszahlen. Dass jetzt wieder die Spitalszahlen dermaßen hoch sind, ist vermutlich ein Ergebnis der vorzeitigen Öffnungen. Also muss man die Zügel sicher wieder anziehen. Doch die medizinischen Behandlungen, die Impfungen und auch die Medikamente zur Behandlung von Covid-19 sind deutlich fortgeschritten. Also sehe ich hier kein Worst-Case-Szenario für Europa.


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