Entscheidungsformen im Unternehmen

Manager zwischen Formelwissen und Bauchgefühl


Entscheidungen basieren für das Controlling primär auf Berechnungen. Alle Informationen werden in Zahlen ausgedrückt, wenn nötig auch gepresst, dann wird gerechnet und die Option mit dem höchsten Nutzen ausgewählt. Ein Controlling, das nicht alte Vorurteile bestätigt, sondern kreative, auch ungewöhnliche Wege beschreitet, wird die Möglichkeiten und Grenzen der Quantifizierung akzeptieren und die Entscheider dabei unterstützen, die richtige Entscheidungsform auszuwählen.

1. Entscheidungsformen

Die Quantifizierung unternehmerischer Entscheidungen hat sich in den letzten Jahren verstärkt und findet ihren konsequenten Ausdruck in der „Balanced Scorecard“, die den Anspruch erhebt für praktisch alle Handlungsfelder im Unternehmen quantitative Daten zu generieren. Auf dieser Basis ist dem Postulat des Controllings, der Rationalität, einfach nachzukommen, ist doch der Zahlenvergleich letztlich eine triviale Aufgabe. Ein Blick auf die unterschiedlichen Möglichkeiten, ihre Vor- und Nachteile kann zu ungewöhnlichen Lösungen führen. Dies sowohl bei der Entscheidungsunterstützung des Managements als auch bei controllingeigenen Entscheidungen.

Die entscheidende Frage ist, welche Form der Entscheidung für die jeweilige Situation angemessen ist. Objektivität drückt sich darin aus, dass Gleiches gleich entschieden bzw beurteilt wird, womit die gleichen Instrumente zum Einsatz gelangen sollten, aber nicht immer und überall die gleichen. Damit ist beim Controlling das „Quantifizierungsdiktat“ angesprochen oder anders ausgedrückt: Wer nur einen Hammer als Werkzeug hat, sieht überall Nägel.

Grundsätzlich gibt es vier Entscheidungsformen:

  • Ein Algorithmus ist eine Handlungs­vorschrift. Algorithmen bestehen aus endlich vielen, wohldefinierten Einzelschritten. Alle relevanten Informationen werden quantifiziert, und gewichtet, dann wird gerechnet und ein Ergebnis ermittelt.
  • Die Heuristik. Das Wort „Daumenregel“ beschreibt dieses Vorgehen gut. Es gibt viele Informationen, aber nur wenige davon sind relevant und werden zur Entscheidungsfindung herangezogen. Der Entscheider macht sich im sprichwörtlichen Sinne keinen Kopf, wägt nicht lange ab, sucht nicht nach weiteren Informationen, sondern entscheidet schlicht. Hierzu werden universelle Regeln herangezogen, so einfach diese auch sind.
  • Die Einschätzung eines, häufig externen, Experten wird akzeptiert und zur Entscheidungsauswahl eingesetzt.
  • Das Bauchgefühl der bzw des Entscheider/s. Einfach seiner Intuition folgen und den spontanen, ersten Einfall umsetzen, aber auch andere Meinungen anhören, komplexe Berechnungsmodelle Ergebnisse produzieren lassen und dann doch in sich hineinhorchen und im Zweifelsfall dem Bauchgefühl folgen, selbst wenn die – scheinbar objektiven – Argumente in eine andere Richtung weisen.

2. Expertenwissen

Im Finanzsektor lässt sich die Qualität des Expertenwissens besonders gut beurteilen. Es liegt eine Fülle von quantitativen Daten für einen langen Zeitraum vor. Experten geben für eine große Anzahl von Börsenindizes und Wechselkursen Prognosen ab, welche mit der tatsächlichen Entwicklung verglichen werden. 1 Gleiches gilt für die Entwicklung eines Wertpapier-Portfolios im Vergleich zum Markt. Die Ergebnisse sind eindeutig: Experten sind schlecht, schlechter als der Zufall oder plakativ ausgedrückt die Affen, die Pfeile auf eine Dartscheibe werfen, um so besonders aussichtsreiche Werte zu ermitteln. Es gibt immer wieder Einzelne, die über einen längeren Zeitraum richtige Prognosen erstellen, dabei hilft allerdings der Zufall. Je größer die Anzahl der Experten, umso wahrscheinlicher, dass einer oder mehrere nach vielen Jahren noch richtig liegen.

Vergleichbare Ergebnisse finden sich bei klinischen Studien, wenn Expertenmeinungen und Formelwissen miteinander verglichen werden. Meehl betrachtet 200 Studien, in 60 Prozent waren Algorithmen besser, in 40 Prozent ergab sich ein Unentschieden, was für die Algorithmen sprach, da diese schneller und preis­werter Ergebnisse bereitstellten. 2 Meehl vermutet, dass Experten deshalb so schlecht liegen, weil sie besonders clever, kreativ und unkonventionell sein möchten. Selbst wenn diese leistungsfähigen Algorithmen vorliegen, setzen sie sich über diese hinweg, weil sie annehmen über zusätzliche, besonders relevante Informationen zu verfügen. Wie sollten sie sonst ihren Expertenstatus rechtfertigen?

Dennoch ist es falsch, Expertenwissen vollständig abzulehnen. Unter bestimmten Umständen werden Menschen zu Experten. Dazu bedarf es zweier Vorrausetzungen: eine regelmäßige Umwelt und unmittelbare, direkt erfahrbarer Folgen der eigenen Handlungen. Wenn dann noch ca 10.000 Stunden Übungszeit eingesetzt wurden, kann der Experte Entscheidungen treffen, die Dritten nicht möglich sind. Deshalb sollte man im Operationssaal reagieren, wenn der Anästhesist sagt, dass etwas „nicht stimmt“, erhält dieser doch ein unmittelbares Feedback auf seine Handlungen, wenn der Patient zu früh aufwacht oder überhaupt nicht mehr. Der Chirurg, der eine Knieoperation vornimmt, erhält diese Rückkoppelung meistens nicht. Die meisten Leser werden als Autofahrer einen Expertenstatus erlangen. Die Handlung wird regelmäßig vorgenommen und die Reaktion auf Fehler erfolgt unmittelbar.

3. Algorithmen

Der Begriff des Experten ist immer relativ zu sehen. So wissen Deutsche grundsätzlich mehr über deutsche Städte als Amerikaner und umgekehrt. Dies sollte auch zutreffen, wenn zwei Städte bzgl ihrer Einwohnerzahl verglichen werden. Gigerenzer legte Deutschen und Amerikanern hierzu Vergleiche vor, wobei beiden Versuchsgruppen die gleichen Fragen gestellt wurden. 3 Ein Beispiel:

  • Welche Stadt hat mehr Einwohner? Detroit oder Milwaukee?
  • Welche Stadt hat mehr Einwohner? Bielefeld oder Hannover?

Das Ergebnis war, dass die Versuchsteilnehmer bei dem ihnen unbekannteren Land besser abschnitten. Die einfache Erklärung: für das Ausland wählten sie schlicht die Stadt als größer aus, die ihnen bekannt war, setzen also einen einfachen Algorithmus ein. Beim eigenen Land gerieten sie als Experten ins Nachdenken …

Bei diesen Untersuchungsergebnissen stellt sich die Frage, warum Algorithmen nicht viel häufiger zum Einsatz kommen. Weil Menschen sie nicht mögen. Kahneman entwickelte einen einfachen, aber wirkungsvollen Algorithmus, um für Rekruten der israelischen Armee den passenden Truppenteil auszuwählen. Die bisher dafür Verantwortlichen waren gegen dieses Vorgehen, fanden es interessanter Gespräche zu führen, als Checklisten abzuarbeiten. Die Lösung lag darin, dass die Verantwortlichen verpflichtet wurden die festgelegten Fragen zu stellen, aber anschließend eine endgültige Beurteilung durchführten. 4 Dass Checklisten keine „Krücke“ für unsichere bzw. schlechte Entscheider darstellen, zeigt sich im Luftverkehr, wo Piloten diese bei der Überprüfung vor dem Start, als auch im Notfall anwenden.

Entsprechend gilt es für das Controlling Vorteile aufzuzeigen und zur Entwicklung entsprechende Algorithmen anzuhalten. Häufig sind es die jungen Mitarbeiter, die bereitwillig solche Lösungen suchen und aufgreifen.

Zu einem Vergleich der Leistungsfähigkeit wurden drei Algorithmen miteinander verglichen (s Abb 1):

  • bei der Strichlisten-Regel werden alle Faktoren gleichbehandelt und alle Alternativen gleich bewertet,
  • bei der Take-the-best-Regel wurde alleine der beste Grund berücksichtigt und
  • bei der multiplen Regression werden sämtliche Faktoren gewertet und gewichtet. 5
Abb 1: Vergleich der Leistungsfähigkeit

Abb 1: Vergleich der Leistungsfähigkeit

Das einfachste Verfahren ist das effektivste für die Vorhersage, worauf es schließlich ankommt. Nachher vieles besser gewusst haben zu wollen, bringt weder einen Controller noch ein Unternehmen weiter.

4. Bauchgefühl

Bauchgefühl ist nicht mit Expertentum gleichzusetzen. Der Experte begründet ausführlich, warum er zu einer Entscheidung gelangt, derjenige, der auf sein Bauchgefühl hört, kann dies nicht. Weiterhin können Experten­entscheidungen im Nachhinein auf richtiges und falsches Handeln analysiert werden. Dies erfolgt bspw bei jedem Zwischenfall im Luftverkehr oder nach einem Feuerwehreinsatz. Beim Bauchgefühl ist dies dagegen kaum möglich, weil es sich selbst der Beschreibung durch den Entscheider entzieht. Die Einstellung des „rationalen“ Controllers hierzu ist ablehnend, entzieht sich das Vorgehen doch einer scheinbaren Objektivierung.

Gigerenzer definiert das Bauchgefühl als ein Urteil, dass:

  • Rasch im Bewusstsein auftaucht.
  • Dessen tiefere Gründe nicht vollkommen bewusst sind.
  • Das stark genug ist, dass Menschen danach handeln. 6

Die Einstellung des „rationalen“ Controllers hierzu ist ablehnend, entzieht sich das Vorgehen doch einer scheinbaren Objektivierung. Diese Ablehnung erfolgt auch in der verhaltenswissenschaftlichen Literatur. Bereits Daniel Kahneman grenzt beim menschlichen Entscheiden zwei Systeme voneinander ab: System 1 arbeitet automatisch und schnell, mühelos und ohne willentliche Steuerung. System 2 dagegen wird bewusst aktiviert, lenkt die Aufmerksamkeit auf anstrengende, komplexe Aufgaben. 7 Wieder und wieder führt Kahneman Versuche durch, die nachweisen, dass System 1 zu systematischen Fehlern führt.

Bauch­entscheidungen sind nicht vollständig in Kahnemans Systematik einzufügen. Es handelt sich nicht um den spontanen „Schnellschuss“, sondern die bewusste Entscheidung, wenn scheinbar alle Fakten objektiv auf dem Tisch liegen und zu einer Entscheidung in eine bestimmte Richtung lenken, aber das beschriebene Gefühl zum Gegenteil auffordert. Diese sind nicht willkürlich, sondern beruhen auf jahrelanger Erfahrung und dienen einem bestimmten Ziel. Wenn der Bauch schweigt, schweigt er, wenn er sich meldet, sollte er ernstgenommen werden.

Dabei werden Bauentscheidungen selten thematisiert. Ein Unternehmensleiter möchte nicht seinen Mitarbeitern mitteilen, dass die zusammengetragenen Fakten wichtig seien, er aber aufgrund seines Bauchgefühls anders entscheide. Der Chef eines börsennotierten Unternehmens kann nicht gegenüber Aufsichtsgremien und Aktionären eine Entscheidung mit seiner Intuition begründen. Allerdings zeigt eine Untersuchung von Gigerenzer, dass Bauch­entscheidungen in Unternehmen häufig vorkommen und mit höherer Hierarchiestufe sogar noch zunehmen. 8 Auch, weil es sich typischerweise um komplexe Entscheidungen handelt.

Bedauerlicherweise meinen Entscheider, sich nicht zu ihren Bauch­entscheidungen bekennen zu können und nehmen eine nachträgliche Rationalisierung vor, suchen also nach weiteren Fakten, die ihr Bauchgefühl bestätigen. Wer kennt als Controller nicht die Aufforderung „noch einmal“ zu rechnen, obwohl das gewünschte Ergebnis mehr oder minder angezeigt wird. Noch häufiger wird defensiv entschieden, also die beste Option fallen gelassen und die zweit- oder drittbeste Option gewählt, um sich selber zu schützen. 9

Bei allen Entscheidungen gilt es, die sprichwörtlichen Hausaufgaben zu machen, zu rechnen, zu quantifizieren wo dies möglich ist. Dann gilt es allerdings, vor der endgültigen Entscheidung auf das Bauchgefühl zu hören, vor allem das der ältesten, erfahrensten Entscheider. Auch Controller können und sollen diese Bauchgefühl entwickeln und einsetzen.

 

Abb 2: Bauch­entscheidungen in %

Abb 2: Bauch­entscheidungen in %

5. Generelle Regel

Entscheider präferieren intuitiv eine Entscheidungsform. Geprägt durch die Ausbildung und beruflicher Position, letztlich auch die Persönlichkeit, entscheidet der eine bewusst aus dem Bauch, während der andere sorgfältig abwägt, Für und Wider notiert, die Auswirkungen quantifiziert und berechnet. Die obigen Ausführungen sollten verdeutlicht haben, dass es die eine, optimale Entscheidungsform nicht gibt. Hier kann das Controlling differenzierte Hinweise geben, die sich von der Zahlendominanz abheben.

Die Grundfrage wie einfach bzw komplex eine Entscheidung ausfallen soll, fast Gigerenzer wie folgt zusammen: 10

Hohe Ungewissheit – Niedrige Ungewissheit

Viele Alternativen – Wenige Alternativen

Kleine Datenmenge – Große Datenmenge

Mach es einfach – Mach es komplex

So wird eine Spedition, aufgrund der Telemetriedaten der einzelnen Fahrzeuge und der Kostenerfassungen über den gesamten Lebenslauf, ein entsprechendes Berechnungsmodell für die Beschaffung eines neuen LKW entwickeln und einsetzen, während der Mittelständler mit einem Fahrzeug einfacher vorgeht.

Der Immobilienmakler wird Daten verwenden, um den Wert eines Objektes zu berechnen, der Mensch der einmal im Leben ein Haus kauft auf seine Intuition hören.


Literatur

Friebe, Holm: Die Stein Strategie, München, 2013.

Gigerenzer, Gerd: Risiko, München, 2013.

Kahnemann, Daniel: Schnelles Denken, langsames Denken, München, 2011.

Thaler, Richard: München, 2019.


Quellen

1 Gigerenzer, Risiko, 2013, 119.

2 Kahneman, Schnelles Denken, langsames Denken, 2011, 276.

3 Gigerenzer, Risiko, 68.

4 Kahneman, Schnelles Denken, 285.

5 Gigerenzer, Risiko, 165.

6 Gigerenzer, Risiko, 143.

7 Kahneman, Schnelles Denken, 33.

8 Gigerenzer, Risiko, 149.

9 Gigerenzer, Risiko, 153.

10 Gigerenzer, Risiko, 131.


Der Artikel ist in CFO aktuell (Heft 3/2020) erschienen. Mehr Infos unter: www.cfoaktuell.at

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