„Sie müssen lernen, immer wieder einmal ‚offline‘ zu sein“

Bernd Hufnagl, Neurobiologe, Führungskräftetrainer und Managementberater, über den Versuch des ständig Gleichzeitigen. Das Gespräch führte MMag. Sarah Blaimschein.


Dr. Bernd Hufnagl (geboren 1969 in Villach/Kärnten). Studien der Biologie und Medizin mit Schwerpunkt Neurobiologie, Hirnforschung und Verhaltensbiologie. Langjähriger Lehrbeauftragter an der Universität Wien. Zehn Jahre Hirnforschung an der Universität Wien und der Universitätsklinik für Neurologie am Allgemeinen Krankenhaus Wien mit Schwerpunkt Emotionen und Gedächtnis. Dozent am Management Center Innsbruck (MCI). Buchautor, Keynote-Vorträge, Kongressvorträge und Dinnerspeeches im In- und Ausland. 15 Jahre Erfahrung in der Beratung, Implementierung, Organisation und Evaluierung professionellen betrieblichen Gesundheitsmanagements in national und international tätigen Organisationen.

CFO aktuell: Sie sagen, dass der Versuch des Gleichzeitigen Menschen fertig macht. Dabei kritisieren Sie vor allem das Konzept des Multitaskings. Warum kann dieses aus Ihrer Sicht nicht funktionieren?

Bernd Hufnagl: Man muss immer differenzieren: Aus biologischer Sicht sind Menschen grundsätzlich zum Multitasking fähig. Das Konzept des Multitaskings ist weder etwas Bedrohliches noch etwas Gefährliches und macht Menschen auch nicht krank. Wir wären sogar ausgestorben, könnten wir das nicht. Sie sind ja in der Lage, gleichzeitig zu gehen, zu reden und zu telefonieren. Sie können auch mit dem Auto fahren und telefonieren. Das ist zwar für die Verkehrssicherheit nicht zuträglich, aber möglich. Das heißt, Menschen beherrschen es, unterbewusst durch Übung Automatisiertes, Gelerntes, Eingeübtes, Routinemäßiges gleichzeitig zu tun. Das passiert auch tatsächlich im engeren Sinn des Begriffs Multitasking gleichzeitig und simultan. Die unterschiedlichen Hirnbereiche sind gleichzeitig aktiv und wir können gleichzeitig unterschiedliche Dinge steuern.

Was damit aber meistens gemeint ist, und das muss man wirklich differenzieren, ist, dass Sie mir nicht zuhören können und gleichzeitig etwas anderes niederschreiben. Zusammengefasst kann man sagen: Bewusstes Multitasking geht nicht, unterbewusstes Multitasking funktioniert hingegen sehr wohl. Was das Problem an diesem bewussten Multitasking ist, und von dem sprechen wir sowohl im Lernkontext als auch im normalen Kontext von stressbelasteten Menschen in der Berufswelt: Immer, wenn versucht wird, Dinge gleichzeitig zu tun, wird man müde, aber nicht effizient, nicht besser und vor allem nicht genauer. Man macht mehr Fehler und braucht länger, das ist das Problem dahinter.

Die Daten dazu haben wir schon längst am Tisch. Wenn man versucht, Dinge bewusst gleichzeitig zu machen, bezwingt man in Wahrheit nur seinen Angst- bzw Neugierdetrieb, manchmal sogar beides. Dieser Aktionismus lässt uns oft hektisch werden, und das macht den Menschen fertig. Deswegen haben wir moderne Probleme wie Stresssymptome, Burnout, Überlastungen und ähnliche Themen, aber auch Probleme aus medizinischer Sicht – und das ist das, was ich kritisiere – wie Aufmerksamkeitsstörungen. Die Menschen können nicht mehr zuhören, sie werden ungeduldig, oberflächlicher, können sich nicht länger mit einem Thema beschäftigen.

Mein Tipp lautet: Man muss sich und seine eigenen Sorgen und Ängste kennen lernen und dann durch gute Selbstmanagementstrategien und Disziplin mit diesem Gleichzeitigen aufhören, permanente Benachrichtigungen ausschalten und ähnliche Dinge von einfachen bis hin zu komplizierten Dingen abgrenzen und auch Nein sagen. Das ist heute wichtiger denn je, sonst verschwindet alles zu einem Brei. Ineffizienz ist nur vieles gleichzeitig, aber nicht effizient.

CFO aktuell: Was können wir tun, um hirnge­rechter zu arbeiten?

Hufnagl: Das Schwierige daran ist, dass es sehr von der eigenen Persönlichkeit abhängt. Nicht jeder ist gleichermaßen davon betroffen, wie wir in der digitalisierten Welt von heute leben, arbeiten und funktionieren müssen, nicht jeder erlebt Stresssymptome oder wird extrem fehleranfällig oder entwickelt Aufmerksamkeitsstörungen. Der Trend in diese Richtung ist jedoch auffällig. Jene Menschen, die das nicht zeigen, haben eine andere Persönlichkeit. Die haben ein anderes Selbstbewusstsein, sind keine Perfektionisten mit Kontrollzwang. Es gibt eine Persönlichkeitsstruktur, die es wahrscheinlicher macht, damit ein Problem zu haben. Andererseits gibt es Persönlichkeitsstrukturen, die es sehr unwahrscheinlich machen, dass man etwa ein Burnout bekommt oder überlastet ist, nur weil man Multitasking betreibt.

Das Problem der digitalisierten Welt ist diese gefühlte Erwartungshaltung des eigenen Umfelds, die dazu führt, dass wir versuchen, die Dinge schnell zu machen – und die Digitalisierung erleichtert uns das noch zusätzlich. Als wir noch Briefe geschrieben haben, hat es automatisch Pausen gegeben: Pausen zwischen dem, was man absendete, und dem, was man als Empfänger wieder zurückbekam. Diese Pausen gibt es nicht mehr, das heißt, es verschwimmt, es beschleunigt sich, und das ist das Problem. Wir brauchen Spielregeln, ohne Spielregeln sind wir im wilden Westen.

CFO aktuell: Sie haben gesagt, es wäre sinnvoll, dass es Vereinbarungen zwischen Arbeitgebern und Mitarbeitern gibt. Wie kann aus Ihrer Sicht so eine Vereinbarung aussehen?

Hufnagl: Es gibt zwei Ebenen: die formale und die informelle Ebene. Die formale Eben ist jene, die der Gesetzgeber vorgibt und der Arbeitgeber tatsächlich in Dienst­verträge schreibt. Dann gibt es die informelle Ebene, auf der Führungskräfte Vorbildfunktionen einnehmen, weil sie sich so verhalten, dass sie auch im Urlaub ständig E-Mails schreiben oder zum Teil auch direkt ansprechen, was sie erwarten und informell, also abseits des formal Juristischen, etwas direkt oder indirekt vom Mitarbeiter einfordern. Genau diese Ebene versuchen wir durch Spielregeln deutlicher zu kommunizieren. Es sollte klar ausgesprochen werden, was ich als Führungskraft von meinen Mitarbeitern erwarte. Diese Ebene gehört klar kommuniziert: Das nicht Ausgesprochene ist eigentlich das wesentliche Problem im Zusammenhang mit der Digitalisierung.

CFO aktuell: Sie würden also dazu raten, dass diese informellen Dinge in der Zusammenarbeit geregelt werden; etwa, ob man auch im Urlaub erreichbar sein muss?

Hufnagl: Genau so ist es, das kann ja dann auch der Mitarbeiter selbst einfordern. Wir ermutigen die Menschen in unseren Workshops und Seminaren auch dazu, tatsächlich einmal den Mut zu fassen und zu sagen: Lieber Chef, was willst Du von mir? Muss ich erreichbar sein, muss ich abheben? Oder: Ja, ich bin erreichbar, aber nur per SMS und nur im absoluten Notfall. Oder: Ja, ich gebe dir die Telefonnummer des Hotels, meiner Urlaubsdestination.

Auch solche Spielregeln funktionieren. Was aber nicht gut funktioniert und keine Empfehlung sein kann, ist, dass man den E-Mail-Kanal geöffnet lässt. Das sorgt dafür, dass jene Menschen, die perfektionistisch sind, ihre E-Mails auch im Urlaub checken und es keine zwei Wochen aushalten, dies nicht zu tun. Die Folgen reichen dann von Versagungsängsten bis zur Angst, am ersten Arbeitstag 500 ungelesene E-Mails bearbeiten zu müssen. In jedem Fall sorgen das Unausgesprochene und die Erwartungshaltung dafür, dass Druck entsteht, und dieser gehört reduziert. Das geht über Spielregeln.

CFO aktuell: Was bedeuten die Erkenntnisse aus der Neurobiologie für unsere Arbeitswelt?

Hufnagl: Das Problem ist, dass man Aufmerksamkeit programmiert. Aufmerksamkeit ist wie eine Taschenlampe. Eine Taschenlampe, die man in der Dunkelheit einschaltet, wirft einen Lichtstrahl und kreiert einen Lichtspot. Dieser Lichtspot entspricht der Aufmerksamkeit. Dort, wo der Lichtspot ist, herrscht bewusste Wahrnehmung. Der Rest, der in der Dunkelheit liegt, ist die unterbewusste Wahrnehmung. Das heißt, Menschen schneiden sich – und das ist eine wichtige Erkenntnis aus der Neurobiologie und scheint evolutionsbiologisch vorteilhaft gewesen zu sein – einen kleinen Ausschnitt aus der Wirklichkeit heraus. Das bedeutet aber auch, dass Sie permanent herumleuchten: Sie sehen sich ja immer einen anderen Ausschnitt an. Würde Ihre Kollegin, die mit Ihnen im Raum sitzt, plötzlich schreien, würden Sie nicht mehr in meine Richtung leuchten, sondern bewusst den Fokus wechseln und von mir zu Ihrer schreienden Kollegin schwenken. Im beruflichen Alltag schreit immer irgendwo jemand.

Menschen leuchten permanent mit ihrer Taschenlampe von A nach B zu C, zurück nach B und dann nach D. Es gibt Menschen, die in der Lage sind, ihre eigene Taschenlampe relativ ruhig und lange auf eine Person oder eine Sache zu richten. Es gibt aber auch Menschen, die das nicht mehr können. Sie sind mittlerweile so aufmerksamkeitsgestört, dass sie die Kontrolle über ihre eigene Taschenlampe verloren haben – und das ist eine wichtige Erkenntnis der Neurobiologie.

Zurück zu Ihrer Frage zum Multitasking: Dieses sorgt dafür, dass wir die Kontrolle über die Taschenlampe verlieren. Um diese Kontrolle zurückzu­gewinnen, braucht es Spielregeln und Strategien. Es ist so wichtig, dieses Bild der Taschenlampe zu verstehen und dass wir Menschen durch diese digitale Permanenz etwas tun, was in der Evolutionsgeschichte zu einem veränderten Verhalten geführt hätte. Ein Beispiel: Sie können sich vorstellen, was unsere Vorfahren vor 200.000 Jahren getan hätten, wenn sie in einem Waldstück gelebt hätten, in dem es ständig raschelt, knackst und jemand kreischt sowie eine permanente Bedrohungen durch unvorhersehbare Geräusche da gewesen wäre: Sie hätten sich einen anderen Platz zum Leben gesucht, weil das nicht zu ertragen ist. Der Impuls der Flucht hätte dazu geführt, dass sie den Ort dieser permanenten Berieselung und Störung verlassen hätten.

Am Arbeitsplatz können wie diesen Impuls jedoch nicht mehr ausleben. Wir können nicht einfach gehen. In unserer Konsum­gesellschaft sind wir vom Gehaltszettel und von der Überweisung am Monatsende abhängig. Damit haben wir biologisch das Problem, dass unsere inneren Impulse, diese permanenten Störungen zu verlassen, nicht mehr zu befriedigen sind. Daher brauchen wir Spielregeln, um sie zu minimieren.

CFO aktuell: Zu einem anderen Themengebiet: dem Lernen. Was bedeutet Lernen in der digitalen Welt?

Hufnagl: Zunächst muss man unbedingt zwei Dinge auseinanderhalten: Auf der einen Seite die Bildung und auf der anderen Seite die Aus- und Weiter­bildung. In dieser digitalen Permanenz wird Bildungseffizienz verhindert, aber die Anhäufung von leerem Faktenwissen ist weiterhin möglich. Genau das passiert: Leeres Faktenwissen wird angehäuft. Das ist der Unterschied. Bildung ist für mich das, was übrig bleibt, wenn Sie all das Faktenwissen, das Sie gelernt haben, wieder vergessen ist und sich trotzdem etwas für Sie verändert. Die Wahrnehmung oder die Sicht auf die Welt hat sich differenziert. Das ist es, was auch im Schulsystem passieren sollte, aber immer weniger passiert. Bildung braucht Zeit. Es handelt sich dabei um einen sehr individuellen Prozess und dieser hat nichts mit Faktenwissen zu tun.

In der Erwachsenenwelt stützen wir uns auf die Fakten und haben die naive Hoffnung, dass wir in der digitalisierten Welt auch im virtuellen Raum über Blended Learning unser Verhalten ändern. Das ist naiv, denn das wird nur dann passieren, wenn der Zuhörer – egal ob im digitalen Raum oder im Präsenztraining – bereits ein Problembewusstsein entwickelt hat.

Problembewusstsein bedeutet, dass jemand, der bei Ihnen im Seminar sitzt, weiß, dass er vom Controller Institut etwas zum Themenspektrum Controlling, Finance und Management wissen möchte, weil er damit im Alltag ein großes Problem hat. Er benötigt also eine Lösung, weil er es ohne diese Lösung nicht mehr aushalten würde. Das haben die meisten Menschen nicht, das heißt, wir haben Semin­artourismus und keine sehr aufmerksamen Menschen am anderen Ende der Leitung sitzen. Das hat mit Lernen nichts zu tun, sondern im besten Fall nur mit dem Anhäufen von Faktenwissen.

Die wichtigste Information diesbezüglich: Dieses Wissen ist nur kontextbezogen abrufbar. Neurobiologisch ist es damit in einem Hirnbereich abgespeichert, in dem etwa auch Ihr Bankomatcode liegt. Ihr Bankomatcode fällt Ihnen sehr viel leichter ein, wenn Sie vor dem Bankomaten stehen und nicht irgendwo am Strand. Das erleben viele Menschen, und das ist nur ein kleines Beispiel. Wir haben viel in unserem Gehirn abgespeichert, das kontextabhängig ist. Aber was das kontextunabhängig bedeutet, um es kreativ anzuwenden, um bei dem, was man tut, mitzudenken, das gibt es nicht, das passiert alles nicht mehr und das ist das Dilemma.

Oft diskutiere ich in den Firmen mit den Personalverantwortlichen: Was wollt ihr eigentlich? Wollt ihr jemandem Excel beibringen? Falls ja, dann reicht die digitale Welt. Dann braucht ihr im Vorfeld nur jemanden, der den Herrn Müller in das Training schickt und sicherstellt, dass Herr Müller im Vorfeld ein Problembewusstsein hat. Genau dort sind Führungskräfte gefordert. Ohne Führungskräfte in der Verantwortung haben wir Semin­artouristen: Herr Müller geht zu einem solchen, hört ein bisschen zu und wenn er kein Problembewusstsein hat, hat er nach zwei Wochen alles vergessen. Da können Sie im Nachgang noch so aufwändig digital wieder versuchen, Herrn Müller über Fragen­stellungen oder Ähnliches irgendwie dazu zu bringen, zu lernen. Das gelingt einfach nicht. Menschen lernen nur, wenn sie ein Problembewusstsein haben. Ein Problembewusstsein zu erzeugen, ist Aufgabe des Controller Instituts – und auch meine Aufgabe sowie die meiner Mitarbeiter. Wir müssen sicherstellen, dass es bei vielen Menschen im Publikum ein Problembewusstsein gibt. Dieses kann man erzeugen, indem man den Menschen klar macht, dass sie ein Problem haben. Erst danach sollte die Lösung angeboten werden.

Der naive Zugang, den etwa die meisten Lehrer in der Volksschule zeigen, ist völlig falsch: Man versucht, den Kindern zum Beispiel Mathematik beizubringen, indem man ihnen eine Lösung für ein Problem anbietet, das unsere Kinder noch gar nicht haben. Das ist das Dilemma des Bildungssystems: Es werden Lösungen für nicht vorhandene Probleme angeboten. Und das ist nicht sehr smart.

CFO aktuell: Haben Sie einen Tipp, was können wir für unser Gehirn tun?

Hufnagl: Wenn Sie glücklich bleiben wollen, müssen sie immer wieder Tagträumen. Das klingt jetzt vielleicht irritierend, aber Tagträumen ist deshalb wichtig, weil es dafür steht, sich jeden einzelnen Tag für wenige Minuten in die Lage versetzen zu müssen, die Gedanken sinnlos schweifen zu lassen. Das passiert nur noch bei den allerwenigsten Menschen. Es werden immer konkrete Ziele verfolgt – auch gedanklich.

Wenn ich dauernd darüber nachdenken muss, was ich bis Freitag um 15:00 Uhr noch alles erledigen muss, dann fällt mir das alleine und in Ruhe auf einer Parkbank Sitzen schwer. Mir fällt auch nicht mehr auf, wie gut es dort eigentlich riecht und dass mit gerade jemand angelächelt hat. Mir fällt plötzlich nicht ein, was ich soeben gegessen habe. Das passiert dann, wenn man keinen Abstand mehr zum eigenen Funktionieren hat.

Wir brauchen Tagträume, wir brauchen Abstand, wir brauchen das Nichtfunktionieren, und das müssen wir üben. Denn das ist es, was das Hirn zur Regeneration dringend benötigt: die Fähigkeit zur Regeneration und Erholung.

Ein weiterer Tipp, den ich häufig gebe: Planen Sie für jeden Tag einen Kurzurlaub! Planen müssen Sie es deshalb, weil Sie es sich vornehmen müssen. Sie müssen sich vornehmen, was Sie heute in der Mittagspause machen, weil Ihr Gehirn ansonsten automatisch in der Arbeitswelt bleibt. Wenn so etwas nicht passiert, dann sind Sie permanent „online“. Sie müssen lernen, immer wieder einmal „offline“ zu sein.

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