Literaturtipp: Die Macht der Geographie

Mit der Klarheit nimmt die Kälte zu – auch in der Politik


Die russische Außenpolitik ist aggressiv, China strebt die Weltmacht an und die USA unter Joe Biden sind wieder zum Reich des Guten geworden. Die ist, etwas verkürzt und zugespitzt, der Tenor der hierzulande in den Medien veröffentlichten Nachrichtenlage. Wer keine eigene Meinung hierzu hat, wird es gerne dabei bewenden lassen.

Die brisante Mischung aus Diversity-Wahn, Klimaschutz-Euphorie und Corona-Panik hat die westlichen Massenmedien zu regel­rechten Gerichtshöfen der Moral verkommen lassen. Selbsternannte „Qualitätszeitungen“ werben ohne Selbstironie für die von ihnen vertretene „Haltung“ und erwähnen „Information“ mit keinem Wort. Und wenn die Realität nicht in das eigene Weltbild passt, greift man halt zum „Faktencheck“ als neuestem Handwerkszeug journalistischer Selbstüberschätzung.

Solcher­art zurückgeworfen auf die Notwendigkeit, sich seine Meinung selbst zu bilden, lohnt sich allemal ein Blick über den Tellerrand der innenpolitischen Kleinkariertheit hin zu den großen historisch-politischen Zusammenhängen. Mit seinem Buch „Die Macht der Geographie“ hat der britische Journalist und Autor Tim Marshall ein Standardwerk zur zentralen Rolle der Geographie nicht nur bei Kriegen und Konflikten, sondern auch ein Erklärungsmodell für die Prosperität oder Rückständigkeit von Ländern und Regionen vorgelegt.

Gleich im ersten Kapitel widmet sich Tim Marshall dem ewigen Problembären Russland und legt anschaulich dar, mit welchen der Geographie geschuldeten Nachteilen das Land, trotz seiner riesigen Ausdehnung, seit Jahrhunderten konfrontiert ist. Neben dem Fehlen strategisch wichtiger, ganzjährig nutzbarer Seewege stellt vor allem die nach Westen hin relativ ungeschützte Grenze aus russischer Sicht ein strategisches und militärisches Gefahrenpotenzial dar. Die seit dem Fall des Kommunismus erfolgte Ausdehnung der NATO bis ins Baltikum und nach Polen geschah noch mit zähneknirschender Billigung durch Moskau. Doch mit den wiederholten Avancen des Westens an die Ukraine ist für Russland nun, fast so wie es der Autor in seinem Buch prognostiziert hat, ein Schmerzpunkt erreicht, an dem es bereit ist, sowohl auf seine ökonomischen Waffen Gas und Öl und, in jüngster Zeit und mit ungewissem Ausgang, auf militärische Eskalation zu setzen.

Auch China, die nächste der in dem Buch vorgestellten Großmächte, sorgt in der heimischen Medienberichterstattung immer wieder für Negativschlagzeilen und wird im Westen allgemein als Bedrohung wahrgenommen. Gänzlich ausgeblendet wird dabei, dass China während vieler Jahrhunderte eine Weltmacht war und diesen Status erst im 19. Jahrhundert, mit der Ankunft der britischen Kolonialherren, verloren hatte. Nach dieser historischen Schmach und der Überwindung der Wirren des Maoismus hin zu einem von der Kommunistischen Partei kontrollierten Turbo-Kapitalismus ist China zurück auf der Weltbühne und arbeitet zielstrebig an seinem Status als politische, wirtschaftliche und militärische Supermacht. Neben aus chinesischer Sicht unverhandelbaren Positionen wie dem Status von Taiwan und Tibet als originär chinesische Territorien stehen, so der Autor, vor allem sichere Seewege und die Versorgung mit Rohstoffen im Vordergrund der globalen Interessen Chinas und bilden mögliche Konfliktherde sowohl mit den Nachbarländern als auch den USA.

Von allen Großmächten hatten die USA von Anfang an die günstigste geographische Ausgangsposition. Zugang zu Weltmeeren im Westen und im Osten, gesicherte Landgrenzen im Norden und im Süden, hervorragend schiffbare Flüsse, Rohstoffvorkommen und fruchtbare Böden begünstigten den Aufstieg der USA zur Supermacht, deren Allein­stellung nach dem Ende des Kommunismus in den 1990er-Jahren ungefährdet schien. Mittlerweile haben China in wirtschaftlicher Hinsicht und Russland auf militärischer Ebene wieder deutlich aufgeholt, dennoch bleibt, so der Autor, die Vormacht­stellung der USA auf absehbare Zeit weiter unangetastet. Die zahlreichen Niederlagen der USA bei dem Export ihrer Weltsicht von Demokratie sind zwar bitter, aber auf lange Sicht für die Amerikaner gut verkraftbar: Hinzu kommt, dass der Traum von einigen Europäern von einer gemeinsamen Außen- und Verteidigungspolitik und damit von einem Erstarken der EU als westlichem Gegenspieler der USA „langsam vor unseren Augen … stirbt“. Otto von Bismarck wird in diesem Zusammenhang treffend zitiert mit den wohl auch heute noch gültigen Worten: „Das Schicksal beschützt Kinder und Idioten, Betrunkene … und die Vereinigten Staaten.“

Ach, Europa. Das Kapitel zum Alten Kontinent ist einigermaßen knapp gehalten und beschränkt sich auf eine Darstellung der aktuellen Konfliktlinien zwischen dem „armen“ Süden wie Italien, Spanien und Griechenland und den Nettozahlern im Norden sowie der Zweckehe zwischen Deutschland und Frankreich.

Wirklich trist sind die Befunde für Afrika. Der riesige Kontinent leidet, so Tim Marshall in seiner detailreichen Analyse, unter ungünstigen geographischen Voraussetzungen wie kaum schiffbaren Flüssen, wenig brauchbaren natürlichen Häfen und einer oft menschenfeindlichen Topographie, die von Wüsten und Trockensteppen bis hin zu mückenverseuchten Urwäldern reicht. Hinzu kommt eine äußerst heterogene Bevölkerungsstruktur mit Tausenden von Sprachen und vor allem das prekäre Erbe der Kolonialzeit mit seinen willkürlich auf der Landk­arte gezogenen Grenzen, die eine Vielzahl Seite 33 von „failed states“ zur Folge hatten. Besonders eindrucksvoll sind hierzu die Ausführungen des Autors zum tragischen Schicksal der Demokratischen Republik Kongo, einem der rohstoffreichsten und gleichzeitig aufgrund von Korruption, Misswirtschaft und bürgerkriegsähnlichen Zuständen ärmsten und zerrissensten Ländern des Kontinents. China hat im letzten Jahrzehnt, natürlich nicht ganz uneigennützig, die Hand auf die zahlreichen Bodenschätze Afrikas gelegt und investiert im Gegenzug in zahlreiche Infrastrukturprojekte, ganz anders als die EU, deren Engagement in Afrika über wortreiche Absichtserklärungen bisher kaum hinweggekommen ist. Großes Konfliktpotenzial ortet der Autor schließlich in möglichen Auseinandersetzungen um die Verteilung der Wasserressourcen, vor allem im Oberlauf des Nils zwischen Äthiopien, dem Sudan und Ägypten.

Das Problem willkürlicher Grenzziehungen durch die früheren Kolonialherren ist auch ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis der nicht enden wollenden Konflikte im Nahen Osten. So wurden unterschiedlichste Ethnien und untereinander oft verfeindete religiöse Gruppierungen in auf dem Reißbrett entstandenen Staatengebilden zusammengepfercht und damit der Grundstein für bis heute andauernde, oft kriegerische Auseinandersetzungen gelegt. Die größte von den solcher­art entstandenen Grenzziehungen auf mehrere Länder verstreute Bevölkerungsgruppe sind die Kurden, deren Siedlungsgebiet sich heute auf Syrien, die Türkei und den Irak erstreckt. Instabile politische Verhältnisse begünstigen naturgemäß die Herrschaft autoritärer Anführer, welche für große Teile der Bevölkerung das geringere Übel bei der Wahl zwischen individueller Freiheit und menschenwürdigem, einigermaßen friedlichen Alltag darstellten. Der Arabische Frühling war denn auch, so der Autor, vor allem eine Erfindung westlicher Medien und junger Liberaler, welche mit den profanen Wünschen der Bevölkerungsmehrheit nach Sicherheit und bescheidenem Wohlstand von Anfang an wenig gemein hatte.

Weitere Kapital behandeln das prekäre Verhältnis zwischen den Erzfeinden Indien und Pakistan sowie die latenten Spannungen auf der koreanischen Halbinsel und deren schwieriges Verhältnis zum benach­barten Japan. Der Abschnitt über Lateinamerika liest sich wie ein veritabler Blues über eine mit vielen Ressourcen und unlösbaren Problemen gleichermaßen überforderte Weltregion, die wohl noch auf absehbare Zeit nicht wirklich vom Fleck kommt. Das abschließende Kapitel über die Arktis beleuchtet eine unwirtliche Weltgegend, die aufgrund der zunehmenden Schmelze der Polkappen und den damit ermöglichten neuen Schifffahrtswegen sowie dank riesiger Rohstoffvorkommen zunehmend in das Fadenkreuz internationaler Begehrlichkeiten gerät.

„Die Macht der Geographie“ ist ein hervorragend recherchiertes, klug durchdachtes und brillant formuliertes Sachbuch zum besseren Verständnis der komplexen geographischen und historischen Zusammenhänge, deren Auswirkungen bis in die heutige Tagespolitik reichen. Frei nach Thomas Bernhard„Mit der Klarheit nimmt die Kälte zu – auch in der Politik !“


Diese Rezension ist in CFOaktuell (Heft 1/2022) erschienen. Mehr Infos unter: www.cfoaktuell.at

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