What’s up in Bosten: Fake it till you make it

Dr. Brigitte W. Mühlmann ist Professorin am Babson College in Babson Park, Massachusetts, USA. Sie meldet sich auch 2022 mit ihrer „What’s up in Bosten“ und berichtet über aktuelle Geschehnisse. Dabei gelingt es ihr immer auch einen Blick über den US-amerikanischen Tellerrand zu werfen.


Liebe Leserinnen und Leser,

„Fake it till you make it“, also durch Schein zum Sein? Was geht und was nicht, bzw ob dieses Motto für Unternehmensgründer Grenzen im Finanzbereich hat, war die Kernfrage im Gerichts­verfahren gegen Elizabeth Holmes, der Gründerin des nunmehr insolventen Biotechnologie­unternehmens Theranos und einstmals jüngsten Milliardärin im Silicon Valley. Das in der ersten Januarwoche 2022 gefällte Urteil der zwölf Geschworenen schlägt nun Wellen quer durch die USA vom Silicon Valley bis nach Boston.

Elizabeths ursprüngliche Vision war es, eine Blutüberwachungstechnologie in Form eines Pflasters zu entwickeln, die über Variablen im Blut der Patienten in Echtzeit informieren würde. Dadurch könnten Ärzte die Dosierung von Medikamenten umgehend anpassen und geschätzte 100.000 Menschenleben pro Jahr allein in den USA retten. Das war eine Idee, deren Umsetzung sich als zu schwierig herausstellte. Ein persönlicher Schmerzpunkt, Elizabeths Angst vor traditionellen Blutabnahmen, wurde zum Unternehmenszweck. Sie wollte einen neuen Bluttest anbieten, für den man bloß ein paar aus einer aufgeritzten Fingerspitze gewonnene Tropfen Blut bräuchte. Kleine automatisierte Analysegeräte würden schnellere, genauere und kostengünstigere Ergebnisse als herkömmliche Methoden liefern.

Viele Menschen haben Ideen, aber nur wenige handeln wie Elizabeth Holmes, um sie umzusetzen. Sie gründete 2003 mit dem für ihre Studien­gebühren vorgesehenen Geld ein Unternehmen, dem sie den aus den Wörtern Therapie und Diagnose zusammen­gesetzten Namen Theranos gab. Im folgenden Jahr brach sie ihr Studium an der Stanford University ab. Wie aus dem Buch Bad Blood hervorgeht, wollte Elizabeth Holmes von frühen Kindestagen an Unternehmerin und Milliardärin werden. Ihr unternehmerisches Vorbild war Steve Jobs, der Mitbegründer von Apple, von dem sie auch den Kleidungsstil einschließlich schwarzem Rollkragenpullover übernahm.

Zehn Jahre später wurde der Markt­wert von Theranos auf 9 Milliarden US-Dollar geschätzt, wovon etwa die Hälfte auf Elizabeths Anteile entfielen. Die Eigentümer der anderen Hälfte waren Investoren, die Elizabeth von ihrem Unternehmen überzeugt hatte und 945 Millionen US-Dollar von ihnen aufbrachte. Unter ihnen waren prominente Namen wie der Medienmogul Rupert MurdochOracle-Gründer Larry Ellison, die Walton-Familie von der Einzelhandelskette Walmart, die ehemaligen Außenminister der USA Henry Kissinger und George Shultz, sowie Risiko­kapitalfonds etc. Elizabeth wurde ein Aushängeschild für erfolgreiche weibliche Unternehmensgründerinnen. Sie wurde gefeiert. Portraits der attraktiven Unternehmerin zierten die Titelseiten von Magazinen. Elizabeth Holmes hatte es mit 30 Jahren geschafft, ihren Kindheitstraum zu erfüllen, zumindest am Papier.

Wie so oft in den USA war es auch diesmal die Finanzpresse, die erste Zweifel an den Fortschritten bei Theranos an die Öffentlichkeit brachte. Im Wall Street Journal erschien im Oktober 2015 ein ausführlicher Bericht des Journalisten John Carreyrou, der später das Buch Bad Blood verfasste. Demzufolge dauerte es zehn Jahre, bis die Bluttests von Theranos marktreif waren. Das Unternehmen bot die gesamte Palette von Labortests an. Insgesamt waren es mehr als 240 Tests von Cholesterin bis zu Krebsmarkern. Carreyrou berichtete, dass das von Theranos entwickelte Laborinstrument nur einen kleinen Bruchteil der damals verkauften Tests durchführen konnte. Ehemalige Theranos-Mitarbeiter bezweifelten auch die Testergebnisse und meldeten dies an die zuständigen Behörden. Elizabeth Holmes bestritt diese Behauptungen. Sie verweigerte ein Interview mit dem Reporter und dementierte den Bericht in der darauffolgenden Woche, doch konnte sie den Stein, der ins Rollen gebracht wurde, nicht mehr aufhalten. Eine behördliche Prüfung folgte. Ein Jahr später – im Oktober 2016 – musste Theranos seine Umsatzquelle, den medizinischen Laborbetrieb, schließen. Mittlerweile hatten Investoren zivil­rechtliche Klagen eingebracht. Sie endeten in Vergleichen. Auch die Klage der Securities and Exchange Commission auf zivil­rechtlichen Wertpapier­betrug im März 2018 endete in einem Vergleich ohne Schuldzugeständnis. Das war jedoch noch nicht alles.

Im Juni 2018 erhob die Staatsanwaltschaft Anklage wegen Verschwörung zur Begehung von Überweisungs­betrug sowie Überweisungs­betrug, über den ein Geschworenen­gericht zu entscheiden haben würde. Es mag erstaunen, dass sich die Anklage auf Finanzen konzentriert, die den Aktionärs­kapitalismus repräsentieren, wenn die unverlässlichen Labor­werte den Theranos-Kunden geschadet und ihr Leben gefährdet haben. In Kommentaren wird erklärt, dass sich die Anklage auf Elizabeth Holmes’ Handlungen konzentriert. Sie war in direktem Kontakt mit Kapitalgebern, aber nicht mit Patienten.

Nach mehreren Verzögerungen, bedingt durch die Pandemie und der Geburt von Elizabeth Holmes’ ersten Kind im Juli 2021, begann die Auswahl der Geschworenen im August 2021 und die Gerichtsver­handlung in einem kleinen Gerichtssaal in San Jose ohne Live-Videoübertragung im darauffolgenden Monat. Nach Anhörung von 29 von der Staatsanwaltschaft präsentierten Zeugen sagte Elizabeth Holmes im Dezember überraschend sieben Tage lang persönlich aus, obwohl sie das Recht zu schweigen hatte

Die aus acht Männern und vier Frauen bestehende Jury beriet bis in die ersten Tage des neuen Jahres. Die Entscheidung war, dass Elizabeth Holmes nur in jenen Punkten verurteilt wurde, in denen von ihr verfälschte Dokumente involviert waren. Die „Fake it till you make it“-Kultur der Tech-Industrie hat überlebt, „Falsify it till you make it“ hingegen nicht. Ich schlage vor, einen Science-Fiction-Roman als ein passendes Ventil für derartige Fantasien zu schreiben. Was meinen Sie?

So long – Auf Wiedersehen – Farewell aus Boston.

Ihre Brigitte Mühlmann


Der Artikel ist in CFO aktuell (Heft 1/2022) erschienen. Mehr Infos unter: www.cfoaktuell.at

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