Literaturtipp: Abschied vom Homo Oeconomicus

Verhaltensökonomik und Psychologie revolutionieren die Volkswirtschaftslehre


Für die meisten BWL-Absolventen bleibt die Volkswirtschaftslehre bestenfalls als notwendiges Übel in Erinnerung. Während die Makroökonomie mit ihrer Analyse von gesamtwirtschaftlichen Märkten und deren Zusammenhängen doch ein brauchbares Basiswissen für spätere Praktiker vermittelt, schien die klassische Mikroökonomie über lange Jahre gefangen in realitätsfremden Theorie- und Rechenmodellen und weit entfernt davon, das wirtschaftliche Verhalten einzelner Wirtschaftssubjekte fundiert und überzeugend abzubilden.

Im Zentrum dieser herkömmlichen und aus heutiger Sicht unbrauchbaren Wirtschaftsmodelle stand das Konzept vom „Homo Oeconomicus“ als fiktivem, in jeder Hinsicht wirtschaftlich rational handelndem Marktteilnehmer. Doch schon Adam Smith, den Begründer moderner Nationalökonomie, dürften Zweifel an diesem Phantasiegeschöpf beschlichen haben, schrieb er doch mit seinem Hauptwerk „Der Wohlstand der Nationen“ ein Buch über menschliche „Leidenschaften“, ein Wort, das in den Lehrbüchern der Volkswirtschaftslehre über lange Zeit vermieden wurde.

Der 2017 mit dem Wirtschafts-Nobelpreis ausgezeichnete, in den USA lehrende Richard Thaler gehört zu den führenden Vertretern der Verhaltensökonomik und reflektiert in seinem Buch „Misbehaving“ die Entwicklung der von ihm maßgeblich geprägten Wissenschaftsdisziplin anhand von Forschungsprojekten und launig wiederge­gebenen Episoden und Anekdoten aus den einschlägigen akademischen Zirkeln.

Im Laufe seiner universitären Karriere stand Thaler in regem persönlichem und wissenschaftlichem Austausch mit dem Wirtschafts-Nobelpreisträge Daniel Kahnemann und dessen Forscher-Kollegen Amos Tversky. Ausgehend von deren in der Prospect Theory über die Risikoaversion bei individuellen Entscheidungen unter Unsicherheit untersuchte Thaler zunächst die hieraus resultierenden Konsequenzen für den damit verwandten Endowment– oder Besitztumseffekt. Was zunächst theoretisch klingt, hat große praktische Auswirkungen: Dinge, die man besitzt, werden als höher­wertig eingeschätzt als Güter, die man besitzen könnte. Thaler illustriert dies am Beispiel eines Weinsammlers, dem für einige ältere Flaschen das Zehnfache des ursprünglichen Einkaufspreises angeboten wurde. Doch der Sammler weigert sich, diese zu verkaufen und ist auch nicht bereit, für einen anderen wertvollen Wein denselben hohen Preis zu zahlen. Selbstverständlich fallen bei einem solchen Verhalten Opportunitäts­kosten für den entgangenen Gewinn an, doch, so Thaler, schmerzt der Verzicht auf eine Gelegenheit, etwas zu verkaufen nicht so sehr, „wie das Geld aus dem Geldbeutel zu nehmen und dafür zu zahlen. Opportunitäts­kosten sind im Vergleich zur Übergabe von Bargeld vage und abstrakt.“

Interessant ist auch ein ähnlich gelagertes Beispiel aus der Zeit der Einführung von Kreditk­arten, als ein Rechtsstreit mit Einzelhändlern über die Frage entbrannte, ob Händler Barzahlern und Kreditk­artenkunden verschiedene Preise berechnen dürften. Einige Händler wollten aufgrund der von den Kreditk­artenbetreibern anfallenden Gebühren diese in Form eines Aufschlages an die Kunden weiter­geben. Die beiden Seiten einigten sich schließlich, den höheren Kreditk­artenpreis als „regulären Preis“ und die Barzahlungspreise als „rabattierten Preis“ zu titulieren. Für einen Homo Oeconomicus sollte es, so Thaler„keine Rolle spielen, ob man den Unterschied von drei Cents einen Rabatt oder Aufschlag nennt …, aber die Marketingfachleute ahnten bereits intuitiv, dass die Art der Formulierung eine Rolle spielte. Ein Aufpreis ist eine zusätzliche Zahlung, während es sich ‚lediglich‘ um Opportunitäts­kosten handelt, wenn man keinen Rabatt erhält.“

Diese und zahlreiche andere Erkenntnisse der Verhaltensökonomik finden praktische Umsetzung in Vertrieb und Marketing. So wird etwa der Effekt der „versunkenen Kosten“ gerne genutzt, um über Einmal­zahlungen, wie etwa den Abschluss eines Abonnements für ein Fitness Center oder Amazon Prime, den einmaligen „Schmerz“ über eine Ausgabe damit zu rechtfertigen, dass alle weiteren Vorteile dieses Geschäftsabschlusses „kostenlos“ sind. Den daraus resultierenden Druck, ins Fitness Center zu gehen, am Hotelbuffet mehr zu essen, als einem gut tut oder wieder bei Amazon zu bestellen, da der Versand ja ohnehin „kostenlos“ ist, kennen wohl die meisten von uns.

Auch über ausgeklügelte Bonus- und Rabattsysteme wird die menschliche Psyche gerne ausgetrickst, im Buch eindrucksvoll beschrieben anhand des erfolgreichen Turnarounds eines bis dahin erfolglosen Skigebietes. Neben den „versunkenen Kosten“ zählten hier – für den nüchtern rechnenden Homo Oeconomicus eigentlich sinnlos – der gekonnte Einsatz von Gutscheinen und künstlich herbeigeführte Angebotsverknappung zum auch hierzulande vor allem von großen Einzelhandelsketten in Form von „Bonus Clubs“ eingesetzten Repertoire.

In der Finanzwelt wird das theoretische Paradigma der effizienten Märkte tagtäglich an den Börsen widerlegt. Schon der berühmte Benjamin Graham, wichtigster Lehrmeister der Investorenlegende Warren Buffett, setzte mit seinem nonkonformistischen Value Investing-Ansatz auf preis­werte, meist als langweilig verpönte Aktien eher kleinerer Unternehmen, welche sich ihrerseits – so Graham – lang­fristig besser entwickeln als die Aktien großer Konzerne. Die auf Basis kleiner Datensätze getroffene Aussage von Graham wurde denn auch – zwar zähneknirschend – in den 1980er und 1990er Jahren von modernen akademischen Finanzökonomen mehrfach bestätigt. Richard Thaler, ebenso wie der für seine Forschung zur Behavioural Science ebenfalls mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Robert Shiller, stellten einen klaren Zusammenhang zwischen hohem KGV und allzu optimistisch eingeschätzten Zukunftsperspektiven fest. Die lang­fristig unvermeidlich eintretende Regression zum Mittel­wert erklärt, so Thaler und Shiller übereinstimmend, den Erfolg der zumindest zum Kaufzeitpunkt unterbe­werteten Value-Aktien.

Auch soziale Phänomene und Modetrends führen zu Übertreibungen an der Börse, siehe Internet- und Immobilienblase. Shiller hat in diesem Zusammenhang immer wieder das Platzen diverser Blasen vorhergesagt, lag aber mit den von ihm prognostizierten Zeitpunkten regelmäßig daneben. Thaler meint hierzu lakonisch: „Es ist viel leichter, festzustellen, dass sich möglicherweise eine Blase gebildet hat, als vorherzusagen, wann sie platzen wird, und Investoren, die versuchen, Geld damit zu verdienen, dass sie den besten Zeitpunkt zum Ein-beziehungsweise Ausstieg abpassen, sind nur selten erfolgreich.“ Und weiter: „Preise können, selbst dann, wenn die Anleger ganz genau wissen, dass sie falsch sind, falsch bleiben und sich sogar noch stärker in die falsche Richtung bewegen. Dies sollte Anlegern, die sich für smart halten und die offensichtliche Fehlbe­wertung ausnutzen wollen, eine Warnung sein. Es ist möglich, Geld zu verdienen, aber es ist nicht leicht. Zweifellos kann man Anlegern, die dem Evangelium der Markteffizienzhypothese Glauben schenken und in kostengünstige Index­fonds investieren, keinen Vorwurf für diese Entscheidung machen.“

„Misbehaving“ ist in amüsantem Plauderton geschrieben und gibt einen umfassenden Überblick über den Durchbruch von Wirtschaftspsychologie und Verhaltensökonomik im Rahmen der volkswirtschaftlichen Forschung, aufgelockert durch zahlreiche Praxisbeispiele und Klatsch Tratsch aus den US-Eliteuniversitäten, nicht zuletzt aber auch ein Buch, das dazu einlädt, die eigenen Fehlentscheidungen und irrationalen Verhaltensmuster kritisch zu hinterfragen.


Diese Rezension ist in CFOaktuell (Heft 2/2022) erschienen. Mehr Infos unter: www.cfoaktuell.at

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