Interview: „Mir wäre mehr Mut zum Scheitern lieber“

Wie stark Emotionen unsere Entscheidungen beeinflussen, weiß Prof. Dr. Johannes Steyrer. Trotzdem ist er überzeugt, dass Mut zum Scheitern der Katalysator für eine gesunde Wirtschaft ist und dass daher ein Gegenspieler in Form eines Changemanagers zum Risikobeauftragten den Unterschied macht.


Controller Institut: Eine offene Frage zu Beginn: Glauben Sie, kann in unserer komplexen Welt die Zukunft überhaupt antizipiert werden?

Johannes Steyrer: Komplexität wird insbesondere durch drei Größen bedingt, und zwar durch die Anzahl der relevanten Variablen, durch Unterschiede bei den kurz-, mittel- und langfristigen Folgen und den Grad der Kopplung zwischen den Elementen. Die globale Welt, in dem wir alle leben, ist sehr komplex. Man investiert in Immobilien in Ohio und in Irland bricht die Volkswirtschaft zusammen, – denken Sie an die Sub Prime Krise 2009. Brennt’s irgendwo im Dorf, muss rasch gelöscht werden, um einen Flächenbrand zu verhindern. Es brennt aber ständig irgendwo. Das versetzt uns alle permanent in einen Alarmzustand und wir sind gleichzeitig einem Beschleunigungszwang ausgesetzt. Das führt zu einem fürchterlichen Dilemma, denn die Reaktionszeiten nehmen ab, während der Zeitbedarf für angemessene Lösungen eigentlich zunimmt. Ja, das macht das Antizipieren der Zukunft in der Tat schwierig.

Controller Institut: Seit einiger Zeit gibt es einen Shift vom rein negativ besetzen Risikomanager hin zum Risk- und Changemanager in vielen Unternehmen. Wie ist die Transformation zu verstehen und was bedeutet das für die neuen Changemanager konkret?

Johannes Steyrer: Ich war immer der Ansicht, dass das eher konservative Risikomanagement einen Gegenspieler braucht, und zwar in Form eines offensiv agierenden Chancen-Managements. Warum? Emotional werden potenzielle Verluste und Risiken anders verarbeitet als Gewinne und Chancen. Menschen ärgern sich über ein Strafmandat mehr als sie sich über einen Brieflosgewinn derselben Höhe freuen. Der Negativitätseffekt liegt, je nach Thema, irgendwo zwischen drei und fünf, d. h. potenzielle Risiken beschäftigen/ängstigen uns mindestens dreimal so stark als die Hoffnung, wie sie mit etwaigen Chancen verbunden sind. Das kann zu einer sehr rückwärtsgewandten Vorsichtskultur führen, weil Angst immer stärker als Hoffnung ist. Skeptisch bin ich bei Ihrem Tandem „Risk- und Changemanager“. Diese Funktionen brauchen komplementäre Typen, und zwar den analytisch in die Tiefe gehenden, eher beharrenden Risk-Manager im Vergleich zum eher ganzheitlich, musterdurchbrechenden und mutigen Chancen-Typen. Beides geht meines Erachtens nicht zusammen.

Controller Institut: Wir drehen die Zeit zurück. Es ist Mai 2019. Gegen welche Risiken sollten sich Unternehmen in Mitteleuropa für das kommende Jahr schützen? Was wäre Ihre Prognose gewesen?

Johannes Steyrer: Hätte es die Corona-Krise nicht gegeben, säße uns Greta und die Klimakatastrophe im Nacken. Damit einhergehend hätte uns z. B. die Autoindustrie und die drohende Verlagerung ihrer Wertschöpfung in Richtung Asien beschäftigt. Uns hätte der Handelskrieg zwischen den USA und China beschäftigt sowie die Frage, wie sich der Post-Brexit wirtschaftlich auswirkt. Angst ist so wirkmächtig, dass man sich zu einem konkreten Zeitpunkt nur vor einem richtig fürchten kann. Der Rest bleibt dann ausgeblendet.

Controller Institut: Stichwort Neglect of Probability. Menschen überschätzen Unwahrscheinliches und unterschätzen sehr Wahrscheinliches. Ganz unabhängig von COVID-19. Was ist, Ihrer Meinung nach, das meist unterschätzte Risiko, womit sich österreichische Unternehmen in den nächsten 5 Jahren beschäftigen sollten?

Johannes Steyrer: COVID-19 ist ein gutes Beispiel für das Neglect-of-Probability-Phänomen. Dazu einige Zahlen: Schon bisher starben pro Tag weltweit an Infektionen der Lunge rund 6.500 Menschen. In Österreich starben pro Jahr etwa 2.500 Personen der über 70-jährigen an Lungeninfektionen. Die Kollateralschäden, wie sie mit dem Lockdown verbunden sind, haben dramatische, nichtintendierte Folgen. Beispielsweise zeigt eine aktuelle Studie, dass Arbeitslosigkeit bei 30- bis 55-jährigen Männern deren Sterberisiko um 82 Prozent erhöht, und zwar nach Berücksichtigung von physischen Risikofaktoren, Lebensstil und ökonomischem Status. 100 000 arbeitslose Männer bedeuten etwa 820 zusätzliche Todesfälle mehr, und zwar bei jungen, arbeitsfähigen Menschen. Das Herzinfarktrisiko steigt z. B. um das Zweieinhalbfache. Frauen sind davon weniger stark bis gar nicht betroffen. Warum? Männer müssen, so das fatale Stereotyp, nach wie vor mehr produzieren als konsumieren.

Hinzu kommt, dass jetzt zwei Monate* die Krankenhäuser fast leer standen und wichtige Operationen, z. B. in der Onkologie, nicht durchgeführt wurden. Im April gab es in Österreich um 30 Prozent weniger Herzinfarkte. Die Leute blieben aus Angst zu Hause. Chirurgen berichten, dass seit Mitte März Blinddarmentzündungen alle mit einem Durchbruch kommen. Auf direkt drohende Ursachen reagieren wir alle anderes als auf indirekte Folgewirkungen. Es tut mir leid, um auf Ihre Frage zurückzukommen, aber uns wird in den nächsten fünf Jahren der COVD-19-Wirtschaftseinbruch und dessen fatale Auswirkung auf EBIT und Cash-Flow mehr beschäftigen als alles andere.

Controller Institut: Vielerorts hört man: COVID-19 sei ein schwarzer Schwan gewesen. Wieder andere Experten behaupten, eine Pandemie als Black Swan zu bezeichnen entspreche großer Risikoblindheit. Wie sehen Sie das?

Johannes Steyrer: Der Begriff ‚Schwarzer Schwan‘ geht auf Nassim Taleb, einen Finanzmathematiker, zurück und bezieht sich auf Ausreißer, die jenseits der üblichen Erwartungen liegen, weil in der Vergangenheit nichts Vergleichbares geschah, die aber trotzdem nicht unwahrscheinlich sind. Dass irgendwann ein Virus mutieren und vom Tier auf den Menschen überspringen wird, das haben Virologen immer wieder prognostiziert. Ob das Virus jetzt ein Black Swan ist oder nicht, ist eine akademische Petitesse. So viel ist aber sicher: Wir leben in einer Welt, in der das Leben jeden Tag gewinnen muss, während der Tod nur einmal zu siegen braucht. Life is risky und business is risky. Das wollen wir alle nicht wahrhaben. Wahrscheinlich gibt es auch deshalb Risk-Management, weil wir alle – metaphorisch gesprochen – der Tatsache des unweigerlichen eigenen Todes nicht ins Auge schauen wollen.

Controller Institut: Faktum ist: Viele Unternehmen haben das Risiko einer Pandemie falsch interpretiert. Welche Folgen hat das für Unternehmen in Europa?

Johannes Steyrer: Hätten Unternehmen bei ihren Investitionsentscheidungen in den letzten Jahren auch noch die Risiken einer Pandemie mitberücksichtigt, hätte es wahrscheinlich – außer in der Pharmabranche – überhaupt niemanden gegeben, der in die Zukunft investiert hätte. Auch heute wissen wir, dass unsere Antibiotika demnächst versagen werden, weil die Keime zunehmend resistent werden und es für die Pharmabranche kein Geschäft ist, in derartige Medikamente, die nur kurzfristig und selten eingenommen werden, zu investieren. Sollte diese existentielle Bedrohung heute schon in unsere Risikoszenarien einfließen? Nein! Ohne prinzipielles Vertrauen in die Zukunft ist Marktwirtschaft undenkbar. Mehr als 80 Prozent der Start-ups scheitern in den ersten drei Jahren. Jeder Risk-Manager würde empfehlen: Hände weg davon! Der Pessi-Mist ist der einzige Mist, auf dem nichts wächst. Nur so lange das BIP wächst, ist die Mehrheit der Unternehmen erfolgreich. Ohne Vertrauen in die Zukunft kein Wachstum, ohne Wachstum Verluste statt Gewinne und gleichzeitig wirtschaftliche Abwärtsspiralen ohne Stopp-Tasten. Das muss man den Wachstumswahn-Kritikern ins Stammbuch schreiben: Die direkten/indirekten gesundheitlichen Folgen fehlender Prosperität wären weitaus dramatischer als das Coronavirus.

Controller Institut: Was glauben Sie, wie stehen grundsätzlich die Zukunftschancen für das Berufsbild des Risikomanagers? Hat die Coronakrise diese vielleicht sogar positiv beeinflusst?

Johannes Steyrer: Ja, die ubiquitär grassierende Angst wird auch in den Management- und Vorstandsetagen das Denken, Fühlen und Handeln in nächster Zeit stark bestimmen, was den Bedarf wecken wird, mehr und mehr das Orakel in Delphi zu befragen. Mir wäre allerdings mehr Mut zum Scheitern lieber als die drohende Paralyse durch zu viel Analyse. Weil das Management nicht verlieren will, gewinnt es dann auch nichts. Zum Glück werden Tools zur Optimierung von Managemententscheidungen – so auch das Risk-Management – ohnehin weniger ernst genommen, als wir gemeinhin glauben, denn wie heißt es so schön im Müllereimer-Modell von Entscheidungen: „Organizations gather information but don‘t use it. Ask for more, and ignore it. Make decisions first and look for the relevant information afterwards.” In diesem Sinn: Be ready to Restart! Win the Fight! Win the Future!


* Das Gespräch fand im Mai 2020 statt.


Weiterbildungstipp

Certified Corporate Risk Manager | Identifikation, Bewertung und Steuerung von Risiken
Wann? Start am 05. November 2020 | Wo? Seminarhotel & Palais Strudlhof, 1090 Wien | Info und Anmeldung 

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