Déjà-vu im Panikmodus

„Diesmal ist alles anders“ – mitnichten! Extremsituationen sind die Regel, nicht die Ausnahme


Sind wir denn alle durchgedreht? Waldsterben, saurer Regen, Ozonloch und Y2K-Bug sind längst vergessen. Auch nach der erst kürzlich überstandenen Corona-Hysterie sind die Virologen von den TV-Bildschirmen endlich wieder in ihre Labors zurückgekehrt, doch von einem Abschied vom medialen Panikmodus kann keine Rede sein. Statt Corona jetzt also die Angst vor der ultimativen Klima-Apokalypse. Und so pilgern nun selbst gestandene Manager mit ebenso voluminösen wie nutzlosen ESG-Berichten vor den Klima-Altar und machen ihren Kotau vor der (schein-)heiligen Greta, während zerzauste Friday-for-Future-Kleber:innen allen Ernstes im Fernsehen skandieren „So ein Sommer darf sich nie mehr wiederholen.“

Zur selben Zeit werden mittlerweile gleich zwei große Kriege ausgetragen, in denen es nicht mehr und nicht weniger als um den Kampf der westlichen, aufgeklärten Zivilisation gegen Barbarei, Terrorismus und Diktatur geht. Doch anstatt sich dieser existenziellen Bedrohung bewusst zu werden und etwas dagegen zu tun, wird an europäischen und amerikanischen Eliteuniversitäten weiterhin und verbissen um Genderdefinitionen, eingebildete Diskriminierungen von immer abstruser konstruierten Minderheiten und das Canceln von Andersdenkenden gerungen.

Neben Verzweiflung und fideler Resignation bietet sich in diesen absurden Zeiten ein Blick aus größerer geistesgeschichtlicher Flughöhe an. In ihrem Buch „Krisen anders denken“ versammeln die beiden Herausgeber Ewald Frie und Mischa Meier ein Kompendium von wissenschaftlichen Arbeiten über den Umgang mit Bedrohungen von der Antike bis in die Neuzeit, um über ein besseres Verständnis für Geschichte und menschliches Handeln in Extremsituationen „neue Einsichten in menschliches Verhalten überhaupt“ zu gewinnen.

Verglichen mit der Justinianischen Pest im Konstantinopel des 6. Jahrhunderts nimmt sich die Corona-Pandemie wie ein milder Schnupfen aus, war doch innerhalb weniger Wochen von 10.000 und mehr Toten pro Tag die Rede. Auf dem Höhepunkt der Epidemie schien die gewohnte Gesellschafts­ordnung aus den Fugen zu geraten, Verbrecher, Quacksalber und falsche Propheten gewannen für kurze Zeit die Oberhand, doch mit dem relativ raschen Abklingen der Gefahr verschwand ebenso schnell auch die Hysterie und machte einen um neue Handlungsweisen erweiterten Alltag Platz.

Ungleich kleinräumiger und thematisch anders gelagert, sorgte ein Fall von Häresie in der peruanischen Hauptstadt Lima im 16. Jahrhundert für Endzeitstimmung. Der Dominikanerpater Francisco de la Cruz unternahm vor großen Publikum den Versuch eines Exorzismus der angeblich vom Teufel besessene Seherin María Pizarro. Der daraufhin einsetzende Tumult und die Gerüchte um einen kurz bevorstehenden Umsturz in der katholischen Kirche riefen die Inquisition auf den Plan, welche de la Cruz schließlich hinrichten ließ und die alte Ordnung in kürzester Zeit wiederherstellte.

Weitere Beiträge untersuchen aus der Natur entspringende Bedrohungsdiagnosen am Beispiel der Lawinenkatastrophe in Galtür im Jahr 1999 sowie der Sandstürme und Versteppung großer Gebiete auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion, der Mongolei und Chinas im Lauf des 20. Jahrhunderts. Katastrophen und Bedrohungsszenarien ganz anderer Art thematisieren die Abhandlungen über die öffentliche Wahrnehmung von AIDS und Ebola – in beiden Fällen geradezu fahrlässig angeheizt durch reißerische Panikmache im Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ –, die Kölner Silvesternacht 2015/16 und die Weltkriegsnarrative und Atomängste im Zusammenhang mit dem immer noch laufenden russischen Angriffskrieg auf die Ukraine.

Belegt durch zahlreiche Beispiele über reale oder imaginierte Bedrohungen durch Wetterereignisse, Ökologie, Kriminalität, Terror und Krieg, religiösen Wahn sowie Banken- und Börsencrashs werden in dem Buch die Mechanismen von Alarmierung und Anheizen illustriert. Die nachfolgende Sammlung und Generierung von Wissen führt schließlich über Strategien der Inszenierung und Imagination zur Überwindung von Krisen, auf die man im besten Fall und im Sinne einer produktiven und präventiven Verarbeitung zurückblicken und schließlich die Bedrohung für beendet erklären kann.

„Krisen anders denken“ vermittelt einen fakten- und facettenreichen Überblick über den Umgang und die Bewältigung von Krisen und Extremsituationen. Die Textbeiträge sind dabei fachlich und stilistisch überaus heterogen und bewegen sich im ganzen Spektrum von Feuilleton, Populärwissenschaft bis hin zu akademischem Elfenbeinturm-Eskapismus samt inhärenten Gendersprech- und Political-correctness-Exzessen. Trotz dieser Abstriche in puncto Lesbarkeit und Ausgewogenheit vermittelt das Buch einen wohltuend nüchternen, weil über die Niederungen der unmittelbaren Gegenw­art erhabenen Blick für das große Ganze im historischen Zeitablauf, in dem Extremsituationen und deren Bewältigung nicht die Ausnahme, sondern vielmehr die Regel sind.

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