Literaturtipp: Es war einmal … Meinungsaustausch auf Augenhöhe

Meinungsmache und Hysterie als gesellschaftliche und kommunikative HerausforderungNach fast einem Jahr Pandemie und Lockdown liegen vielerorts die Nerven blank. Die täglichen Wasserstandsmeldungen über Infektionszahlen, drastische, teilweise widersprüchliche Angstparolen einer Unzahl von Virologen und anderen Experten sowie sichtlich überforderte Politiker stehen Journalisten gegenüber, die nur allzu gerne die allgemeine Katastrophenstimmung am Köcheln und damit ihr Publikum bei der Stange halten. Sogar zuvor todgeweihte Branchen wie Tageszeitungen und öffentlich-rechtliches Fernsehen und Radio wittern neuerdings wieder Morgenluft und befeuern den hysterischen Diskurs.


Doch auch ohne die unsägliche Corona-Thematik werden viele öffentlich ausgetragene Auseinandersetzungen schriller und der Ton zunehmend rauer. Ob Klimaerwärmung, Migration, Donald Trump, Genderdebatte oder Unterdrückung einzelner Personengruppen – oft scheint es, als gebe es hierzu nur eine einzig richtige Meinung und jeder Andersdenkende ist entweder ein Ahnungsloser, Ketzer, Rechtsextremer oder alles zusammen. Auch der berufliche Alltag ist zunehmend gespickt mit kommunikativen Stolperfallen, bei denen eine einzige unbedachte Äußerung mitunter verheerende Konsequenzen für Karriere und seelisches Wohlbefinden haben kann.

In seinem Buch „Wahnsinn der Massen“ untersucht der britische Journalist Douglas Murray die soziologischen und politischen Wurzeln des zunehmend gehässiger und dogmatischer ausgetragenen öffentlichen Meinungsaustausches anhand der Themen Homosexuelle, Frauen­rechte, Rassismus und Transgender. Diese Konfliktfelder stehen dabei exemplarisch für eine Vielzahl inhaltlich anders gelagerter, jedoch kommunikativ durchaus mit ähnlichen Mitteln ausgefochtenen Problemebereiche wie Klima, Migration oder Kapitalismuskritik.

Wahnsinn der Massen Wie Meinungsmache und Hysterie unsere Gesellschaft vergiften Douglas Murray FinanzBuch Verlag, München 2019, € 24,53.

Wahnsinn der Massen. Wie Meinungsmache und Hysterie unsere Gesellschaft vergiften. Douglas Murray FinanzBuch Verlag, München 2019, € 24,53.

Objektiv gesehen und verglichen mit der Situation in den 1960er- und 1970er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts hat sich in der westlichen Welt viel getan im Hinblick auf die Gleich­berechtigung von Mann und Frau, die Abschaffung von Rassendiskriminierung und die Anerkennung von Homosexualität. Folgt man dem öffentlichen Diskurs, hat man dennoch oft den Eindruck, in der schlimmsten aller Welten zu leben, in der heterosexuelle, weiße, reiche alte Männer immer noch den Ton angeben. Durchgeknallte Massenbewegungen verwüsten in Amerika unter dem Vorwand der Beseitigung von Rassismus und Kolonialismus ganze Stadteile, stürzen Denkmale vom Sockel und ergehen sich in zwanghafter Selbstdar­stellung und Verantwortungslosigkeit.

Anhand zahlreicher Fälle vornehmlich aus dem Umfeld US-amerikanischer und britischer Universitäten illustriert der Autor drastisch, auf welch absurde Weise überkommene Dogmen durch neue, nicht weniger gefährliche und intolerante Denkmuster ersetzt wurden. Demnach herrscht an vielen angelsächsischen Universitäten ein repressives Klima ganz im Sinne des überwunden geglaubten marxistischen Klassenkampfes, mit dem einzigen Unterschied, dass nun statt den Rechten der Arbeiterklasse nun jene von Schwulen, Lesben, Schwarzen und Transgender im Mittelpunkt der Auseinandersetzung stehen.

Die Auseinandersetzungen verlaufen oft durchaus militant und lassen schmerzlich jede Form von akademischer Diskurskultur vermissen. Statt um Inhalte wird dabei häufig nur mehr um Symbole gestritten, vom Binnen-I über das Gendersternchen bis hin zur Frage, ob jetzt von „coloured people“ oder „people of colour“ die Rede sein soll. Um nicht in die Nähe von Rassismus gerückt zu werden, entschuldigte sich sogar die renommierte Zeitschrift „National Geographic“ kürzlich für hundert Jahre zuvor erschienene Artikel, bei denen „Einheimische“ möglicherweise als „edle Wilde“ verunglimpft wurden.

Internet und soziale Medien befeuern diese absurden und nicht selten gefährlichen Wortklaubereien und haben so zu einer repressiven, intoleranten „Cancel-Culture“ geführt, bei der sich eine kleine Nebensächlichkeit allzu leicht zum existenzbedrohenden Shitstorm auswachsen kann.

Der Autor fordert angesichts endloser Litaneien von Verbitterung und Gier händeringend einen neuen Geist von Vergebung und Liebe, der andere Meinungen zumindest respektiert und nicht gleich gewalttätig niederbrüllt. Fehlentwicklungen in der Vergangenheit sollen selbstverständlich benannt und die Verantwortung historischer Persönlichkeiten kritisch diskutiert werden, jedoch nicht aus der selbstge­recht urteilenden Perspektive jener, die aufgrund der „Gnade der späten Geburt“ nie in die Verlegenheit kamen, im jeweiligen historischen Kontext leben und entscheiden zu müssen.

„Wahnsinn der Massen“ ist auch für die eher faktenbasierte Leserschaft aus dem Finanzbereich durchaus relevant. Spannend und detailreich geschrieben, analysiert es die Auswüchse eines vornehmlich von angelsächsischen akademischen Kreisen ausgehenden und von den digitalen Medien in eine breite Öffentlichkeit getragenen Kulturkampfes um Macht und Anerkennung. Das Wissen um die damit verbundenen Gefahren und mögliche Handlungsalternativen gehört jedenfalls zum Rüstzeug auch des modernen Finanzmanagers.


Der Beitrag ist in CFOaktuell (Heft 2/2021) erschienen. Mehr Infos unter: www.cfoaktuell.at

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