E-Mail from Bosten: Hindsight 20/20
Dr. Brigitte W. Mühlmann ist Professorin am Babson College in Babson Park, Massachusetts, USA. Sie meldet sich regelmäßig mit ihrer „E-Mail from Bosten“ und berichtet über aktuelle Geschehnisse. Dabei gelingt es ihr immer auch einen Blick über den US-amerikanischen Tellerrand zu werfen: Was fällt Ihnen zum Jahr 2020 ein?
Liebe Leserinnen und Leser,
was fällt Ihnen ein, wenn Sie an das Jahr 2020 zurückdenken? Bei mir ist es immer wieder die in den USA gebräuchliche Redewendung „Hindsight is 20/20“, weil sie so ähnlich wie die Zahl des abgelaufenen Jahres klingt. Wortwörtlich beschreibt „20/20” die normale Sehstärke aus 20 Fuss (ca sechs Meter) Entfernung. Im übertragenen Sinn ist „Hindsight is 20/20“ gebräuchlich, um auszudrücken, dass wir erst im Nachhinein Klarheit über den Ausgang einer Entscheidung haben werden.
Zuerst müssen wir allerdings eine Entscheidung treffen. Ein Beispiel, das aktuell viele Menschen in Unternehmen und weit darüber hinaus betrifft, ist die Entscheidung betreffend eine Cov-Sars-2-Impfung. Die Impfstoffe von Pfizer-BioNTech und Moderna sind mittlerweile zugelassen. Moderna hat eine Produktionsstätte im knapp 30 km südwestlich von Boston gelegenen Norwood. Beide brauchen eiskalte Lieferketten, damit sie wirksam sind. Im Großraum Boston ist auch Thermo Fisher Scientific ansässig, das Gefrierschränke für die Biotechnologiebranche erzeugt, die extrem niedrige Temperaturen von bis zu minus 86 Grad Celsius zusichern. Dennoch liegen allein in der Lieferkette Unsicherheiten, die hoffentlich durch Erfahrung und moderne Technologien beseitigt werden können.
Vor etwa hundert Jahren tobte die Spanische Grippe, die – wie Cov-Sars-2 – ein Coronavirus war. Die ersten Impfungen in den USA erhielten Soldaten im Jahr 1938. Für die Zivilbevölkerung wurden Grippeimpfungen ab 1946 freigegeben. Wie die Verteilung des ersten Impfstoffes organisiert war, ob Fälschungen auf den Markt kamen, welche Temperaturen erforderlich waren usw, konnte ich leider nicht herausfinden – also leider 75 Jahre später kein „Hindsight 20/20“.
Das Marktforschungsunternehmen Gartner hat eine Empfehlung für eine robuste Kühlkettenverteilungsstrategie herausgegeben. Neben einem Fünf-Schritte-Modell, das aus Steuerung, Kapazität, Partnerschaft, Vorgangsweise und Überwachung besteht, werden darin auch Umfrageergebnisse berichtet. Ich erfuhr zB, dass Biotechnologieunternehmen 92 % der Verteilung an Logistikdienstleister übergeben. Diese haben eine Infrastruktur geschaffen, die durch fortschrittliche Software-Management-Systeme vernetzt ist. Auf konkrete Anwendungen geht Gartner nicht ein.
So habe ich überlegt, wie ich mir eine sichere Lieferkette vorstellen und dabei an Erfreulicheres als eine Injektionsnadel im Oberarm denken könnte. Wichtig wäre mir vor allem, zu wissen, dass der Impfstoff von einem bestimmten Hersteller erzeugt wurde, und dass seine Temperatur stets den Empfehlungen entsprach, um wirksam zu sein. Sollte der oder die Geimpfte eine Reaktion auf eine Impfung zeigen, wäre essenziell, dass die verabreichte Dosis in Echtzeit zurückverfolgt wird, um möglichst sofort gegenzusteuern.
Aus einer Anzahl von Inspirationsquellen habe ich ein paar Blockchain-Anwendungen für verderbliche Waren ausgewählt. Beginnen möchte ich mit der BeefChain im Staat Wyoming. Es ist möglich, Rinder auf einer Blockchain zu registrieren, damit man als Gast in einem Restaurant weiß, von welchem Tier das Steak auf dem Teller ist, ob es mit Gras gefüttert wurde, wann und wo es geschlachtet wurde, wie es gelagert und transportiert wurde, welche Temperatur ein auf der Verpackung angebrachter Sensor gemessen hat usw.
Ein flüssiges Lebensmittel, das angeblich häufig gefälscht wird, ist Wein. EY hat eine Blockchain-Anwendung entwickelt, deren Implementierung die Etikette auf jeder Flasche mit einem QR-Code versieht. Wenn Interessenten den Code mit ihrem Handy scannen, erfahren sie ua wann und wo die Trauben geerntet wurden, mit welchen Sulfaten der Wein behandelt wurde sowie das Abfülldatum.
Das Betreiben von Restaurants ist während der Pandemie nicht wie gewohnt erlaubt. Gäste wählen ihre Bestellung zu einem guten Teil auf der Website des Lokals aus. Dann holen sie ihre Gerichte ab oder lassen sie zustellen. So stelle ich mir vor, dass Ärzte eine Auswahl von Impfdosen nach dem Modell einer Speise- und Weinkarte anbieten könnten, aus denen Patienten unter Berücksichtigung ihrer Verträglichkeit auswählen dürfen. Falls der betreffende Arzt Hausbesuche macht, stünden auch Abholung und Zustellung zur Auswahl. Wer vor einer Kaufentscheidung steht, würde nicht nur verlässlich wissen, was das Vaccin kostet, sondern ua auch, wo und wann der Impfstoff erzeugt und abgefüllt wurde, und auch bei welchen Temperaturen seit er seiner Herstellung gelagert wurde.
Falls der Körper des Empfängers auf den Impfstoff unerwünscht reagiert, was hoffentlich nicht vorkommen wird, kann man die Lieferkette schnell bis zum Ursprung verfolgen und umgehend die empfohlenen nächsten Schritte einleiten. Der Handelsriese Walmart verlangt seit 2019 in Lieferantenvereinbarungen von einer Reihe von Blattgemüse-Erzeugern die Implementierung einer Blockchain-Anwendung von IBM, um die Rückverfolgbarkeit von Produkten zur erzeugenden Landwirtschaft in Echtzeit zu gewährleisten und dadurch die Reaktionszeiten bei durch Lebensmittel übertragenen Krankheiten und Rückrufen zu verkürzen. Wenn dieses Modell für Blattgemüse funktioniert, könnte es auch für Cov-Sars-2-Impfstoffe geeignet sein. Es ist möglich, dass es bereits abseits des Rampenlichts existiert.
Man sagt, alles ist bereits erfunden worden. Innovationen sind das Ergebnis von Verfeinerungen oder neuen Kombinationen. Wo könnten Sie „Hindsight 20/20“ mit der kalten Lieferkette zur Vaccin-Verteilung für eine Innovation in Ihrem Wirtschaftsbereich brauchen?
So long – Auf Wiedersehen – Farewell aus Boston. Ihre Brigitte Mühlmann
Der Artikel ist in CFO aktuell (Heft 1/2021) erschienen. Mehr Infos unter: www.cfoaktuell.at
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