E-Mail from Bosten: Das COVID-19-Antibody-Rennen

Dr. Brigitte W. Mühlmann ist Professorin am Babson College in Babson Park, Massachusetts, USA. Sie meldet sich regelmäßig mit ihre „E-Mail from Bosten“ und berichtet über aktuelle Geschehnisse. Dabei gelingt es ihr immer auch einen Blick über den US-amerikanischen Tellerrand zu werfen. In dieser E-Mail geht es nicht nur um Pferderennen, sondern auch um den Wettlauf der Pharmaindustrie in Sachen Corona-Impfstoff.


Liebe Leserinnen und Leser,

wie geht es Ihnen? Ich wünsche Ihnen alles Gute in dieser schwierigen Zeit der COVID-19-Pandemie. Normalerweise suche ich in Boston und Umgebung nach Frühindikatoren. In den vergangenen Wochen haben mir jedoch die österreichischen Nachrichten geholfen, da sich der Virus im Großraum Boston mit einer Verzögerung um ein bis zwei Wochen verbreitete. So habe ich alles, was in meinem Büro war, nach Hause gebracht, solange ich den Babson-Campus noch betreten durfte. Von einem Tag zum nächsten war das College gesperrt und ich habe mein neues „WebEx-Büro“ geöffnet, in dem ich nun meine Studenten, Kollegen und Freunde empfange.

Seither bin ich jeden Tag dankbar dafür, dass ich das Privileg habe, zum geschätzten Drittel der US-Bevölkerung zu zählen, das von Zuhause aus – fast wie gewohnt – weiterarbeiten kann. Auch habe ich das Glück, noch frei vom COVID-19-Virus zu sein, was ich hoffentlich, trotz der in Massachusetts noch täglich steigenden Zahlen, weiterhin beibehalten werde. Das bedeutet allerdings, dass ich auch noch keine Anti-Körper habe. Daher interessiert mich vor allem, ob bzw wann ich immunisiert werden könnte, damit ich dabei sein darf, wenn der Campus wieder öffnet. Da die großen Pferderennen, das Kentucky Derby, die Preakeness Stakes und die Belmont Stakes, heuer statt ab Mai voraussichtlich ab September ausgetragen werden, habe ich mir ein bereits jetzt stattfindendes Fantasierennen der COVID-19-Antibodies um den großen Corona-Preis einfallen lassen.

Die Gegend rund um Boston gilt als das weltweite Zentrum der Biochemie. Wie das Boston Business Journal kürzlich berichtet hat, arbeiten zumindest zehn Unternehmen im Großraum Boston an einer COVID-19-Immunisierung, und jeweils noch einmal so viele an Diagnosen und Behandlungen. Können wir aus ihrer Finanzberichterstattung Hoffnung schöpfen, dass das Antibody-Rennen bald in die Zielgerade preschen wird und die Befürchtung des Direktors der Weltgesundheitsbehörde, dass wir das Schlimmste noch vor uns haben, abgefangen werden kann? Das Zauberwort heißt offenbar: Botenribonukleinsäure (messenger ribonucleic acid, kurz mRNA). Moderna, Incorporated, mit Hauptsitz in Cambridge, Massachusetts, und die CureVac AG mit Sitz in Tübingen, die eine Niederlassung in Boston hat, sind die beiden Spitzenställe, von denen in diesem Zusammenhang häufig berichtet wird. Beide arbeiten an ihrem ersten großen Sieg. Der Wettlauf um den Preis der ersten COVID-19-Impfung zwischen Deutschland und den USA ist in vollem Gange. Oder ist es der Wettlauf eines privaten gegen ein börsenotiertes Unternehmen? Noch ist nicht klar, welche Charakteristika in diesem weltweit erstmaligen Rennen in erster Linie zählen sollen.

Bei den Pferderennen sind alle Teilnehmer drei Jahre alt. Diese Einschränkung gilt beim Antibody-Rennen nicht. CureVac wurde im Jahr 2000 gegründet und ist damit um ganze zehn Jahre älter als Moderna. Rennpferde gehören zunehmend mehreren Investoren. So ist es auch bei den Antibody-Ställen. Die in privatem Eigentum befindliche CureVac AG hat laut der Pitchbook-Datenbank mindestens eine halbe Milliarde Euro Kapital aufgebracht. Zu ihren 17 Investoren gehören ua dievini Hopp BioTech Holding, die Bill & Melinda Gates Foundation sowie das Pharma­unternehmen Eli Lilly. Moderna, anfangs ModeRNA geschrieben mit dem Aktiensymbol MRNA, basiert auf der Forschung des aus Kanada stammenden Harvard Professors Derrick Rossi, der eine Methode für mRNA entwickelt hatte.

Im Dezember 2018 ging Moderna an die Börse. Auch dies hatte zuvor ein Rennpferdstall gemacht. Moderna war einer der größten Börsengänge eines Biotechnologie­unternehmens. Nach Abzug der Kommissionen für die Emissionsbanken, die typischerweise rund 17 % ausmachen, füllten 563 Millionen Dollar Cash die Koffer von Moderna. Dazu kamen ebenfalls im Jahr 2018 noch 661 Millionen Dollar aus der Ausgabe von Vorzugsaktien. Das Geschäftsjahr 2018 schloss daher mit einem Polster von 1,5 Milliarden Dollar an Barmitteln ab, wovon im folgenden Jahr bereits rund 0,4 Milliarden Dollar aufgebraucht oder „verbrannt“ waren, wie die Venture Capitalists gerne sagen. Moderna’s Markt­wert wurde am Tag des IPO auf beachtliche 7,5 Milliarden Dollar geschätzt, und das ohne zuvor ein Rennen gewonnen zu haben. Dennoch erzielte es im Vorjahr einen Umsatz von 60 Millionen Dollar. Diese Einnahmen wurden hauptsächlich durch Kooperations­vereinbarungen und Zuschüsse von staatlich geförderten und privaten Organisationen generiert. Die periodenge­rechte Zuordnung war eine kritische Prüfungsangelegenheit, die im Jahresabschluss 2019 erstmals in den USA offengelegt werden musste. Im erweiterten Bestätigungsvermerk beschreiben die Wirtschaftsprüfer die subjektiven Elemente der involvierten Schätzungen sowie die Prüfungsschritte. Details aus den Vereinbarungen sind in den Erläuterungen offengelegt, wonach die Zusammenarbeit mit Merck den Virusbereich betrifft. Bedeutet das, dass es sich nicht nur um einen Wettbewerb zwischen Curevac und Moderna handelt, sondern um einen der beiden Pharmariesen Eli Lilly und Merck? Das Boston Business Journal hat nun Mitte April berichtet, dass Moderna seinen Impfstoff gegen COVID-19 bereits in Seattle und Atlanta testet.

Noch ist der Ausgang des Antibody-Rennens zwischen Curevac und Moderna nicht vorhersehbar. Wie bei den berühmten Pferderennen könnte ein Außenseiter jederzeit nach vorne preschen und den großen Corona-Preis noch gewinnen. Auch einige solche Anwärter gibt es im Großraum Boston. Schnell! Schnell!

So long – Auf Wiedersehen – Goodbye aus Boston. Ihre Brigitte Mühlmann


Der Artikel ist in CFO aktuell (Heft 3/2020) erschienen. Mehr Infos unter: www.cfoaktuell.at

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