Literaturtipp: Von Hipster-Bärten, Tischkickern und Tulpenzwiebeln

Chancen, Risiken und Nebenwirkungen des Start-up-Hypes – eine kritische Bestandsaufnahme. Über Jochen Kalkas „Die Startup-Lüge“.


Es ist ein wenig wie ein Déjà-vu aus den frühen Nullerjahren. Selbst gestandene, sanierungserprobte CEOs, die ohne Hilfe ihrer Sekretärin nicht einmal den PC einschalten konnten, lagen damals im Dotcom-Fieber. Bis zum Platzen der gleichnamigen Blase machte so manche Old-Economy-Firma viel Geld locker für die Versprechen der selbstbewussten, redegewandten Internetjünger. Und nun? Heerscharen von Managern erliegen dem omnipräsenten Mantra von Disruption und Digitalisierung und verehren Start-ups als Zukunftsverheißung und neuen Motor der Wirtschaft. Ganz Hartgesottene pilgern sogar ins Silicon Valley und geben sich mit Sneakers und Kapuzenpullover oder – noch schlimmer – Hipster-Bärten auch äußerlich als Anhänger der Start-up-Religion zu erkennen.

In seinem neuen Buch „Die Startup-Lüge“ untersucht der deutsche Werbefachmann und Journalist Jochen Kalka die zwölf größten Missverständnisse rund um den Start-up-Hype und versucht dabei eine möglichst realistische Einschätzung über die Chancen und Risiken der digitalen Euphorie.

Die Start-up-Lüge von Jochen Kalka: Wie die Existenzgründungseuphorie missbraucht wird – und wer davon profitiert.

Die StartUp-Lüge von Jochen Kalka: Wie die Existenzgründungseuphorie missbraucht wird – und wer davon profitiert.

Der Autor konfrontiert zunächst mit erschreckenden Zahlen: 90 % aller Start-ups scheitern, 80 % überleben die ersten drei Jahre nicht und 99 % aller Start-ups schaffen es überhaupt nicht, ein Startup zu werden bzw scheitern schon vorher. Bei den großen Vorbildern hingegen, die es bereits geschafft haben, schossen die Börsen­werte in den vergangenen Jahren in groteske Höhen; das zeigt ein Vergleich der großen US-Tech-Konzerne mit deutschen Autobauern: Apple ist an der Börse mit 750 Mrd € zehnmal so viel wert wie Daimler, die Alphabet Inc. schlägt BMW mit 650 Mrd € Buchwert um das Zehnfache und Tesla, an der Börse höher bewertet als BMW, verkaufte im Jahr 2018 ganze 250.000 Autos, BMW hingegen setzte – bei anhaltend guten Gewinnen – im selben Jahr 2,5 Mio Fahrzeuge ab.

Eine Reise in das Silicon Valley, zu den Pilgerstätten von Facebook, Google Co, erweckt tatsächlich den Eindruck, als würde hier an der Zukunft von Übermorgen gearbeitet. Doch gerade die Internetgiganten machen vor, wie man alten Wein eindrucksvoll in neue Schläuche geschickt so umfüllt, dass es (fast) keiner merkt. Das gute alte AIDA (Attention, Interest, Desire, Action), schon in den 1980er-Jahren fester Bestandteil einschlägiger BWL-Seminare, kommt plötzlich gestelzt als Customer Journey daher, und statt öder Old-Economy-Kennzahlen wie Umsatz, Deckungsbeitrag und Rendite strotzt das professionelle Blabla der Start-ups nur so von sehr „sophisticated“ klingenden KPIs, also Key Performance Indicators, die oft ebenso willkürlich wie genial einfach wirken.

Weg mit der Krawatte, her mit einem coolen T-Shirt mit Tagesmotto und einem genialen Aufkleber à la „Love what you do“ auf dem Laptop und dann erst einmal bei einer Runde am Tischkicker entspannen. Doch die meisten Start-ups glänzen weder durch eine lässige Arbeitsatmosphäre noch sind sie coole Arbeitgeber – und schon gar nicht frauenfreundlich. Immer mehr häufen sich, so Kalka, die Berichte über Mobbing, miserable Bezahlung, regel­rechte (Selbst-)Ausbeutung in Form von unbezahlten Überstunden sowie exzentrisches Führungsverhalten und Sexismus bei vielen Start-ups.

Jung, kreativ, berühmt und reich – mit diesem Heilsversprechen ködern Start-ups sowohl Mitarbeiter als auch Investoren. Dass sich übertriebene Hoffnungen und überhitzte Märkte sehr schnell als Fata Morgana erweisen können, wissen die Anleger schon seit der Tulpenkrise im Holland des 17. Jahrhunderts und der Dotcom-Blase vor 20 Jahren, als sich viele Kleinanleger mit Telekom und Infineon erstmals auf das Börsenparkett wagten und prompt den finanziellen Reinfall ihres Lebens erlitten. Auch die jetzige Start-up-Hysterie mitten in einer toxischen, makroökonomischen Gemengelage aus Niedrigzinsen, Zentralbank-Geldschwemme und verzweifelter Suche nach renditeträchtigen Investments weist, so der Autor, alle Anzeichen einer groß angelegten Geldvernichtungsmaschinerie auf, bei der die Frage nicht lautet, ob, sondern wann die Spekulationsblase platzt.

Zu guter Letzt präsentiert Kalka gänzlich unangekündigt eine finale Wahrheit: Es ist nicht alles Lüge! Bei allem Grund zur Kritik an der oft fahrlässigen Denk- und Handlungsweise von Start-ups ist nicht von der Hand zu weisen, dass Digitalisierung und Disruption unser aller Leben nachhaltig und grundsätzlich zum Guten verändert haben – und die digitale Transformation steht erst am Anfang und wird vor allem die Bereiche Kommunikation, Mobilität, Sharing Economy, Zahlungsverkehr und Einkaufsverhalten noch effizienter und konsumentenfreundlicher machen. Dabei wird den Start-ups, ob als tatsächliche Neugründung oder eingebettet in einen klassischen Unternehmensverbund, dank ihrer Unabhängigkeit, Innovationskraft und jugendlicher Leidenschaft auch in Zukunft eine wichtige Rolle zukommen.

Das Buch von Kalka ist eine unterhaltsam geschriebene und mit umfangreichen Fakten unterlegte Abrechnung mit den Auswüchsen des Startup-Booms auf beiden Seiten des Atlantiks. Bei aller gelegentlich zu dick aufgetragenen Häme vermittelt „Die Startup-Lüge“ dennoch zahlreiche praxisrelevante Denkanstöße und Argumentationshilfen auch für CFOs – besonders für den Fall, dass ihnen wieder einmal ein besonders optimistischer Start-up-Businessplan vorgelegt wird. Das Buch kann hier gekauft werden.


Der Artikel ist in CFO aktuell (Heft 3/2019) erschienen. Mehr Infos unter: www.cfoaktuell.at

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